Administrative Revolutionen funktionieren ein bisschen so wie Sternschnuppen. Man nimmt sie erst wahr, wenn sie längst Geschichte sind. Als sich die EU-Bildungsminister am 19. Juni 1999 in Bologna treffen, ist das den deutschen Zeitungen nicht mal eine Meldung wert. Sie berichten über den Krieg im Kosovo und den G8-Gipfel in Köln. Erst zwei Jahre später findet sich das Wort, mit dem sich das Leben von Millionen Studenten ändern wird: "Bologna-Prozess". Heute steht die Stadt für das Punktesystem ECTS, Bachelor und Master: die Angleichung der Universitäten in Europa. Im Jahr 2000 hatten zwei Prozent der Uni-Absolventen in der EU einen Teil ihres Studiums im Ausland verbracht. Heute sind es mehr als 20.
Kopenhagen steht bisher für eine gescheiterte Klimakonferenz und eine überraschend kleine, bronzene Meerjungfrau. Doch vielleicht geht es der Stadt bald wie Bologna. Denn an Bildungsinstituten und auf Ministeriumsfluren wird unter dem Schlagwort "Kopenhagen-Prozess" derzeit der nächste Umbruch vorbereitet. Bereits vor acht Jahren vereinbarten die zuständigen EU-Minister auf einem Treffen in Dänemarks Hauptstadt, die berufliche Bildung der akademischen anzugleichen und Universitäten stärker mit der beruflichen Ausbildung zu verknüpfen. Seit 2007 dürfen Meister und Techniker studieren, 2009 gab es einen Beschluss der deutschen Kultusminister, um den Uni-Zugang für alle beruflich Gebildeten zu ermöglichen. Diese Revolution nimmt jetzt ihren Lauf.
Akademiker ohne klassische Hochschulreife
Rolf Dobischat ist Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität Duisburg-Essen, und das ist durchaus eine Überraschung. Als Dobischat 1964 die Hauptschule verließ, war er gerade 13 Jahre alt. Es folgte eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei dem rheinischen Metallunternehmen Mauser. Mit 16 hatte er ausgelernt, wie man sagt. Selten ist Sprache so verräterisch.
Doch Dobischat genügte das nicht. "Jeden Tag habe ich die Abiturienten gesehen, die mit mir in der Firma gearbeitet haben", erzählt er. "Was die können, das kann ich doch schon lange, habe ich mir gedacht." Zunächst geht er in die Abendschule, holt die mittlere Reife nach, später hört er auf zu arbeiten, macht das Abitur. Nebenbei jobbt er als Taxifahrer. "Mein Ziel war es nie, beruflich aufzusteigen, ich wollte einfach mehr wissen." Mit 20 ist er an der Uni.
Drei Jahrzehnte nach seinem Studienabschluss sind Menschen wie er zwar immer noch die Ausnahme, aber keine Seltenheit mehr. Nach jüngsten Zahlen des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) haben 2010 mehr als 9200 Menschen ohne Abitur ein Studium begonnen. 2007 waren es noch nicht einmal 4000. Gegenüber 1997 hat sich die Zahl sogar fast versechsfacht. Der Anteil der angehenden Akademiker ohne klassische Hochschulreife stieg damit in wenigen Jahren von einem auf rund zwei Prozent. Besonders erfreulich für die Wirtschaft: immerhin jeder vierte wählte ein Mint-Fach (Mathe, Informatik, Technik- und Naturwissenschaften).
Umsetzungsprobleme an der Universität
Die Idee, den Zugang zu universitärer Bildung statt vom Lernweg von der Begabung abhängig zu machen, ist mindestens so alt wie die Bundesrepublik. Es war Karl Schiller (SPD), der spätere Wirtschaftsminister und Erfinder des legendären magischen Vierecks der Wachstumspolitik, der gemeinsam mit Gewerkschaften und Genossenschaften 1948 in Hamburg die Hochschule für Wissenschaft und Politik (HWP) gründete. Ihr Ziel: akademische Bildung für jeden, der willens und dazu in der Lage ist. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Linken-Chef Klaus Ernst und der zum Radikal-Liberalen mutierte ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel haben hier später ihren Abschluss erworben.
Doch aus der alten Idee ist nie eine größere Bewegung geworden. Die HWP machte 2005 dicht. Zur Zeit der Bildungsexpansion erlebte sie eine kurze Blüte, seitdem wird sie immer mal wieder hervorgekramt, wenn es besonders akut an Fachkräften mangelt. Erst die demografische Perspektive der jüngsten Vergangenheit hat der Bewegung neuen Schwung gegeben. "Angesichts der Bevölkerungsprognosen und der wachsenden Anforderungen am Arbeitsmarkt bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Universitäten weiter zu öffnen", sagt Niedersachsens Wissenschaftsministerin Johanna Wanka. Zwar platzen die Universitäten angesichts doppelter Abiturjahrgänge und abgeschaffter Wehrpflicht gerade aus allen Nähten, doch längst ist klar: Danach zeigt der Trend stetig nach unten.
Universitäten kümmern sich nicht
Wer dann noch Formalitäten vor Fähigkeiten stellt, wird sich schnell die Existenzfrage stellen müssen. Jedoch: "Die Regeln auf Länderebene sind schon sehr weitreichend, nur an der Umsetzung in den Universitäten mangelt es", sagt Walburga Freitag vom Hochschulforschungszentrum HIS. So haben sich die Kultusminister nach ihrem gemeinsamen Beschluss 2009 relativ zügig darangemacht, die Universitäten auch für Ausgebildete zu öffnen. Wer eine abgeschlossene Berufsausbildung hat und einige Jahre gearbeitet hat, der kann fachbezogen studieren. Voraussetzung ist eine Zulassungsprüfung, in manchen Ländern ein Probestudium. Das klingt gut, doch in der Praxis hat sich kaum etwas geändert. Denn die Unis sind mit der akuten Bewerberschwemme beschäftigt, die zudem den Blick auf den kommenden Mangel verdeckt. Die Unis haben Angst, überrannt zu werden - dabei müsste das Gegenteil ihre größte Sorge sein.
So haben die Unis zwar auf Druck aus den Ministerien die formalen Möglichkeiten geschaffen - doch um die realen Bedürfnisse der Studenten hat sich keiner gekümmert. Beispiel Nordrhein-Westfalen: 2010 hat sich hier die Zahl der Studenten ohne Abitur zwar um sagenhafte 284 Prozent oder 2730 Studienanfänger erhöht. Doch von denen schrieben sich knapp 90 Prozent allein an der Fernuniversität Hagen ein.
Drei Jahre Wartezeit
Manfred Wannöffel kennt diese Zahlen, aber im Gegensatz zu den meisten anderen hat er nicht nur Vermutungen, sondern auch Indizien, wieso sich an ihnen bisher so wenig ändert. Wannöffel arbeitet an der Ruhr-Universität Bochum, und er hat die erste Befragung in der Gruppe der Studierenden ohne Abitur gemacht. Die Gruppe war lange so klein, dass „ihre Interessen lange Zeit einfach ignoriert wurden", sagt Wannöffel. Er sprach mit allen Betroffenen an der Universität mit ihren 34000 Studenten, es waren 30. Die Studierenden ohne Abitur sind demnach vor allem eines nicht: klassische Studenten. Diese haben vor Beginn des Studiums nichts oder sehr wenig verdient, beruflich Erfahrene verfügen meist über ein gesichertes Einkommen. Studenten nutzen die Universität oft, um von zu Hause wegzukommen. Berufstätige wollen ihren Job behalten und deshalb nah an der Heimat studieren. Sie wollen abends lernen und am Wochenende oder nur von zu Hause. Mit anderen Worten: Sie wollen genau das, was die Institution Uni nicht ist. Und in vielen Fällen auch nicht sein will.
Wer kein Abitur hat, der muss sich an der Universität deshalb ganz hinten anstellen. So stellte Wannöffel fest, dass relativ viele beruflich Qualifizierte Interesse an einem Medizinstudium hatten. Mit Ausbildungen in Pflegeberufen brachten sie zudem ein hohes Vorwissen mit. Einen Studienplatz im Traumfach konnte dennoch keiner von ihnen ergattern: Die Universität wertete ihre Vorkenntnisse unabhängig von Ausbildungsnoten pauschal mit der Note 4,0. Das bedeutet mindestens drei Jahre Wartezeit.
Neue Strukturen
Doch nicht überall wird mit der neuen Kundschaft rüde umgegangen. Schon jetzt bieten Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz die Möglichkeit, in einzelnen Fächern vom Meister in den Masterkurs einzusteigen. Auf der anderen Seite stehen Entwicklungen wie in Baden-Württemberg, wo sich die Berufsakademien, bisher für die Meisterausbildung zuständig, zur "Dualen Hochschule" zusammengeschlossen haben, Bachelor und Master kann man hier studieren. Es sind erste Schritte in Richtung einer neuen Institution, auf die Bildungsaufsteiger Dobischat sich freut: "In zehn Jahren wird die Universität bunter sein", prophezeit er, "es wird Unterricht am Abend und am Wochenende geben, in den Kursen werden 40-jährige Handwerksmeister neben 17-jährigen G8-Abiturienten sitzen."
Bildungsforscherin Nickel steht dieser Entwicklung durchaus positiv gegenüber. Aber: "Ich kann nicht verstehen, warum diese Debatte hauptsächlich von Lobbyisten geführt wird, so grundlegend wie die Folgen sein werden." Denn ein Teil des Erfolgsrezepts des deutschen Ausbildungssystems war stets die Separation: So hat sich ein eigener Korpsgeist in der beruflichen Bildung entwickelt, der sein Selbstbewusstsein stets auch daraus schöpfte, nicht nur der minderwertige Ableger einer akademischen Elite zu sein. Wird jedoch aus gegenseitiger Anerkennung Verschmelzung, dann könnte das eine der beiden Säulen ihre Identität kosten. Und ein falsch verstandenes Kopenhagen würde im schlimmsten Fall zu dem, was Bologna für viele ist. Ein Schimpfwort.