Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Oder als Pessimist: Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück. So oder ähnlich konnte man aktuell die gefühlte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit trotz des weiter sich verdichtenden Arbeitspensums sehen. Hinsichtlich der Thematisierung von Burnout ist mediale Normalität eingekehrt, während in Unternehmen Betriebsamkeit festzustellen ist. Führungskräfte werden mit Handlungsleitfaden ausgestattet und besuchen Schulungen, wie sie psychische Überbeanspruchung ihrer Mitarbeiter erkennen und sich adäquat verhalten können. Regelmäßige Testfragen im Intranet unterstutzen die gewünschte Nachhaltigkeit.
Mit ersten positiven Erfolgen, beispielsweise bei der Bearbeitung berufsbedingter Mails oder Anrufe von Vorgesetzten nach Feierabend. Allerdings wird hier der eigentlichen Problematik der Mailflut nicht wirklich etwas entgegengesetzt. Es werden schon andere Ansätze diskutiert, wie zum Beispiel dass Führungskräfte nur noch direkt anzusprechen sind und nicht mehr über cc. Die direkte Ansprache soll die Hemmschwelle für den gedankenlos gewordenen Automatismus des cc-Setzens heben. Andere ermuntern ihre Mitarbeiter, sich projektspezifisch nicht mehr über E-Mails auszutauschen, sondern in Netzwerken, einer Art Facebook speziell fürs Unternehmen. Dann wird nicht mehr gemailt sondern gepostet. So hängt alles themenbezogene, für alle ersichtlich, an einem Strang. Es geht hier nicht darum die E-Mail abzuschaffen, sondern sie für bestimmte Aufgaben durch bessere Werkzeuge zu ersetzen.
Manche unterstützen die gewünschte Aufmerksamkeit in Bezug auf Burnout indem sie mögliche Vorstufen beziehungsweise erste Anzeichen in Flyern erklärend darlegen und an Mitarbeitertreffpunkten wie Kantine und Eingangsbereich auslegen. Die Dokumentation vielfaltiger Stresssymptome und die allerdings sehr allgemein gehaltenen (Druck-) Auslöser und präventiven Maßnahmen, gehören mittlerweile zum Alltag.
Weniger anzutreffen sind offene Diskussionen, wie dediziert mit dem im eigenen Unternehmen vorherrschenden Erfolgs- und Leistungsdruck umzugehen ist, wie er sich über die Jahre aufbauen und sich wie Mehltau über ganze Abteilungen legen konnte. Diesem heißen Eisen widmet man sich ungern und sucht sich lieber Unterstützung von außen, delegiert das heikle Thema. Prominente mit öffentlichkeitswirksam erlebten Drucksituationen oder Grenzerfahrungen referieren im Frontalvortrag, wie sie selbst damit umgegangen sind bzw. sich davon frei machen konnten. Es besteht die irrige Annahme, dass Mitarbeiter auch deren Erfolgsrezepte übernehmen können.
In Burnout-Präventionsprogrammen der Unternehmen ist interessanterweise festzustellen, dass das mittlere Management von der Geschäftsführung als potenziell ebenfalls Betroffene ausgeschlossen zu sein scheint. Wenn es um psychische Überbelastung geht, stehen normale Mitarbeiter im Mittelpunkt der Betrachtung. In Strategiepapieren ist von einem sensiblen Vorgehen gegenüber Mitarbeitern die Rede. So auch bei der Schulung von Betriebsräten, die in einer Seminarbeschreibung als Betroffene ausgeschlossen sind. Als Arbeitnehmervertretung haben Sie die Aufgabe, den Kolleginnen und Kollegen, die unter psychischen Belastungen leiden, zu helfen.
Burnout ist das Aus der Management-Karriere
Man gewinnt den Eindruck, dass gewisse Kreise bei psychischer Überbelastungen am Arbeitsplatz nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten oder dass sie, was noch schlimmer wäre, offiziell erst gar nicht dafür in Frage kommen. Diese Einschätzung wird von Führungskräften immer wieder lanciert.
So auch durch die Reaktion einer Managerin aus dem oberen Führungskreis eines deutschen Konzerns: "Wir ermutigen die Mitarbeiter, die Smartphones beiseite zu legen und sich in der veränderten Welt neu zu organisieren. Dabei sehen wir alle Manager als Verantwortliche für den Wandel und nicht so sehr als Opfer in dem Prozess." Ein ähnliches Verständnis kam durch ein Mitglied zweier Aufsichtsrate und ehemaligen Vorstandsvorsitzenden eines Mobilfunkanbieters in einem persönlichen Gespräch zum Ausdruck: "Führungskräfte wären bei mir gar nicht so weit gekommen, wenn sie mit Erfolgs- und Leistungsdruck nicht hätten umgehen können."
Burnout
Peter Michael Roth ist seit August 2012 Chefarzt der Oberbergklinik in Wendisch Rietz. Der Psychiater weiß, dass Burnout-Patienten wie Sättele häufig eine ähnliche Persönlichkeitsstruktur haben.
Betroffen sind selten die faulen oder untätigen Mitarbeiter, sondern meist die besonders Engagierten, Perfektionisten oder solche, die sich für unersetzbar halten. „Wenn hohe Leistung in der Kindheit eine große Rolle gespielt hat, trifft es solche Menschen im Berufsleben zuerst“, sagt Roth. Denn sie muten sich häufig zu viel zu.
Im vergangenen Jahr ließen sich in Deutschland so viele Arbeitnehmer aufgrund psychischer Leiden krankschreiben wie noch nie. Wie die Deutsche Angestellten-Krankenkasse bekannt gab, fehlte 2012 wegen psychischer Beschwerden jeder 22. Arbeitnehmer – mehr als doppelt so viele wie 1997.
43 Prozent der Erwerbstätigen glauben, dass der berufliche Stress in den vergangenen zwei Jahren gestiegen ist. Das heißt aber nicht, dass heute mehr Menschen psychische Störungen haben. Vielmehr sind Ärzte und Patienten mittlerweile sensibler. Das ist auch gut so, findet Psychiater Roth: „Lieber ein Patient mehr, der sich fälschlicherweise für depressiv hält, als ein Depressiver, der sich keine Hilfe holt.“
Dies erschwert gewiss den offenen Umgang und stärkt unterschwellig weiter die Tabuisierung. So wäre auch nachvollziehbar, warum Führungskräfte zu ihrer persönlichen Situation erst unter Ausschluss der Öffentlichkeit Stellung nehmen, sie befürchten das Aus ihrer Karriere. Bei Informationsveranstaltungen werden erst abends beim Bier, unter vier Augen, Andeutungen gestreut, wie sich Druck auf der Führungsebene bemerkbar macht. Dass sie schon lange nicht mehr sie selbst sind, Familie und Job nicht mehr in Einklang bringen können, Zeitdruck ihnen alles raubt, sie hin und hergerissen sind zwischen den Interessen von Kunden, Chefs und Mitarbeitern. Am nächsten Morgen stehen erneut die Mitarbeiter im Mittelpunkt der Betroffenheit, als hatte es das Gespräch am Vorabend nicht gegeben.
Eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) über die psychische Beanspruchung von Mitarbeitern und Führungskräften kam zu dem Ergebnis, dass nur in 17 Prozent der befragten Unternehmen das Thema psychische Beanspruchung ein Standardbestandteil des Gesprächs zwischen Führungskraft und Mitarbeiter eine Rolle spielt, obwohl in 89 Prozent der Unternehmen Mitarbeitergespräche geführt werden. Ist es für Mitarbeiter nicht vorgesehen, gilt dies sicherlich auch für Führungskräfte. Um von sich abzulenken, so wird gemutmaßt, legen Führungskräfte den Schwerpunkt auf das Erkennen von Anzeichen bei ihren Mitarbeitern. Eine Enttabuisierung muss aber immer auch bei sich selbst stattfinden.
Ein trauriges Beispiel einer mit sich selbst überforderten Führungskraft kam aus der Schweiz. Hier lagen früh ausreichend Indizien vor, die sogar öffentlich kommuniziert wurden, aber letztendlich nicht zu notwendigen Konsequenzen führten. Im Juli wurde in den dortigen Medien ausführlich vom mutmaßlichen Suizid eines Vorstandsvorsitzenden berichtet. Aussagen, die zuvor über ihn zu lesen waren, ja, die er sogar selbst in Interviews äußerte und in jedem Stress- und Burnout-Test als Grundlage für Fragen dienen, wiesen früh auf eine psychische Überbelastung hin:
- hatte Mühe, sich von der Arbeit abzugrenzen
- hatte immer mehr Schwierigkeiten zur Ruhe zu kommen, das Tempo herunternehmen
- sein Anspruch war Effizienz
- zu wenig Zeit für die Familie
- bin Opfer der modernen Kommunikationsgesellschaft
Dieses Beispiel zeigt deutlich die Gefahr auf, dass aufgrund von Indizien im Vorfeld zu wenig konsequent gehandelt wird. Die Kontrollgremien im Unternehmen hätten ihn eigentlich aufgrund dieser Anzeichen in Zwangsurlaub schicken müssen. Das Gefühl kommt auf, dass erst gehandelt wird, wenn nichts mehr geht beziehungsweise es zu spät ist.
Alkoholiker geben Tipps zum Entzug
Trotz eindeutiger Hinweise im Fall des Schweizer Managers wurden sowohl in den dortigen als auch in hiesigen Medien keine Verbindung zu Burnout hergestellt. Burnout erhält anscheinend nur dann mediale Aufmerksamkeit, und nur dann, wenn sich prominente Personen offiziell dazu bekennen, wie dies die vielen Beispiele von Sportlern, Starköchen, Schauspielern und Musikern zeigen. Auf Indizien scheint sich wegen möglicher Fehldiagnosen niemand richtig einlassen zu wollen. Somit muss sowohl dem dafür erforderlichen Mut als auch den systembedingten Ursachen mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden.
Denn es drängt sich doch eine wichtige Frage auf: Können Führungskräfte ihrer Verantwortung gegenüber Mitarbeitern gerecht werden, wenn sie selbst unter psychischem Druck stehen? Die Fähigkeit psychische Überbeanspruchung zu erkennen und adäquates Handeln wird sicherlich davon beeinflusst. In der bereits zitierten DGFP Studie wird zwar auf die TOP 5 der Belastungsfaktoren (Erfolgsdruck, Zeitdruck, ständige Erreichbarkeit, Arbeitsverdichtung und fehlender Ausgleich in der Freizeit) hingewiesen, eine Auseinandersetzung damit, wie Führungskräfte trotz ihrer Belastung auch ihrer Verantwortung gerecht werden können, wurde hingegen nicht gefordert. Die wenig durchdachte Vorgehensweise hinterlässt bei vielen Mitarbeitern den Beigeschmack, als würden Alkoholiker Tipps für gute Entzugstherapien geben.
Selbsttest: Wie erschöpft sind Sie?
Summieren Sie die Anzahl der zutreffenden Aussagen
Ich komme an Arbeitstagen schwer aus dem Bett.
Abends bin ich meistens völlig erledigt.
Trotzdem grübele ich im Bett noch über die Arbeit nach...
...und kann schlecht schlafen.
Ich trinke abends oft Alkohol, um zu entspannen.
Morgens wache ich kaputt auf.
Ich werde tagsüber häufiger und schneller müde.
Am Wochenende oder im Urlaub erhole ich mich kaum noch.
Mein Job laugt mich aus.
Ich bin sehr ehrgeizig.
Zu Aufgaben kann ich selten Nein sagen...
...selbst wenn ich weiß, dass ich eigentlich schon zu viel zu tun habe.
Ich habe Angst, dass mein Chef mir eine Absage übel nehmen würde.
Deswegen arbeite ich mehr als meine Kollegen.
Auch am Wochenende gehe ins Büro oder arbeite von zu Hause.
Trotzdem weiß das niemand zu schätzen.
Meine Arbeit macht mir immer weniger Spaß.
Es ist anstrengend, mit Kollegen zusammenzuarbeiten.
Ich fühle mich im Job isoliert.
Anderen gegenüber bin ich gleichgültiger geworden.
Meine engsten Freunde sehe ich inzwischen selten.
Meine Familie findet, dass ich mich verändert habe.
Hobbys pflege ich kaum noch.
Ich befürchte, dass ich durch meinen Job abstumpfe.
Meine Arbeit frustriert mich.
Ich habe in meiner derzeitigen Position kaum etwas erreicht.
Emotionale Probleme im Job bringen mich aus der Ruhe.
Ich werde neuerdings schnell aggressiv.
Wenn mir etwas gelingt, kann ich mich kaum darüber freuen...
...Misserfolge sind mir ebenfalls egal.
Im ersten Schritt wäre wichtig, das Vorhandensein von Drucksituationen im eigenen Unternehmen anzuerkennen. Nicht nur die Auswirkungen, sondern auch Einflussfaktoren und mögliche Ursachen, wie Organisationsstrukturen sind in Betracht zu ziehen. Die Einstellung, Führungskräfte als reine Erfüllungsgehilfen zu sehen und nicht als mögliche Betroffene, ist hier nicht dienlich. Auch im Widerspruch stehende Ziele wie Mitarbeiterabbau vs. Arbeitszeitverdichtung sind auf ihre druckverstärkenden Wirkungen zu überprüfen. Des Weiteren ist die internationale Arbeitsteilung, die über alle Zeitzonen hinweg rund um die Uhr ihren Tribut fordert, in die Betrachtung einzubeziehen. Es wird hierbei schnell deutlich, dass es keine alleinige Aufgabe des Gesundheitsmanagements oder der Personalabteilung sein kann, gegenzusteuern. Das ganze Unternehmen ist gefordert.
Auswertung
Glückwunsch! Sie können sehr zufrieden sein, offenbar ist Ihr Job genau der richtige. Sie sind fast rundum ausgeglichen und glücklich. Ihr einziges (Luxus-)Problem: Es ist immer leichter, an die Spitze zu kommen, als dort zu bleiben. Gehen Sie also auch weiterhin achtsam und vorsichtig mit sich um.
Noch ist bei Ihnen alles einigermaßen im grünen Bereich. Womöglich haben Sie nur kurzfristig Stress, und der geht hoffentlich auch wieder vorbei. Schaffen Sie trotzdem mehr Ausgleich, egal, ob im Beruf oder Privatleben. Soll heißen: Gönnen Sie sich regelmäßige Pausen, treffen Sie sich mit Freunden, und schlafen Sie ausreichend. Auch leichter Sport hilft dabei, Stress abzubauen.
Das sind definitiv zu viele Zustimmungen. So banal es klingen mag, aber der erste Schritt ist der wichtigste: Sie dürfen Ihren Zustand nicht länger ignorieren oder verneinen. Akzeptieren Sie stattdessen, dass Sie der Burn-out-Spirale vermutlich nicht ohne fremde Hilfe entkommen. Suchen Sie also einen Arzt oder Psychiater auf. Wichtig: Diesen Schritt dürfen Sie nicht als Zeichen von Schwäche verstehen – sondern von Stärke.
In Unternehmen kann die Art und Weise wie an das Thema Burnout herangegangen wird, allerdings bestehende Drucksituationen verstärken oder gar neue entstehen lassen. Nämlich dann, wenn zum Beispiel Führungskräfte verdonnert werden, Warnsignale bei ihren Mitarbeitern ja frühzeitig zu erkennen, geschürt von der Befürchtung sich sonst am medialen Pranger zu sehen. Ein Rückschluss ist sicherlich legitim: Mit jeder zusätzlichen oder sich verstärkenden Drucksituation kommt die Führungskraft ihrer individuellen Grenze der dauerhaft psychischen Überbeanspruchung näher.
Um hier vorbeugend wirken zu können, muss die Unternehmenskultur die Bedenken, Ängste, Hürden und systembedingten Drucksituationen der Führungskräfte berücksichtigen. Wie ist mit Fehldiagnosen von Mitarbeitern und Kollegen umzugehen, die nie auszuschließen sind? Was ist, wenn diese mit ihrer Annahme alleine dastehen, die festgestellten Indizien von anderen als harmlos interpretiert werden oder sie gebeten werden, sich lieber zunächst selbst zu prüfen, bevor sie auf andere zeigen? Was ist, wenn eine sechzigstündige Arbeitswoche keine sinnvolle Auseinandersetzung ermöglicht oder krank geschriebene Mitarbeiter aufgrund von Sparwellen nicht ersetzt werden dürfen? Wie sind Vorgesetzte bei ersten Anzeichen anzusprechen?
Viele halten die notwendige Diagnosefähigkeit der Führungskräfte für den falschen Ansatz und favorisieren eine externe Betreuung, statt sie mit psychiatrischen Störungsbildern zu belasten. In diesem Falle sei es lediglich die Aufgabe, Leistungsabfälle und -veränderungen festzustellen, die Mitarbeitern anzusprechen und, falls sich keine Fortschritte einstellen, auf die externe Beratung zu verweisen. Könnte dies auch für die Vorgesetzten der Führungskräfte zur Anwendung kommen?
Fakt ist: Die Tabuisierung von Drucksituationen offenbart eine fehlgeleitete Einstellung zur Möglichkeit des Scheiterns. Um dem Führungsmodell ja keine Angriffsflache zu bieten, scheint man sich von vorneherein darauf festgelegt zu haben, dass psychische Überbeanspruchung keine Option sei. Selbst an sich kleine Drucksituationen türmen sich somit (weil es sie per Definition nicht geben darf) zu massiven Drucksituationen beziehungsweise zu einer dauerhaft psychischen Überbelastung auf Führungskräfte sind nicht immun gegen Drucksituationen, sie sparen sie lediglich an. Wer dem keinen Raum gibt, scheitert an der Realität.