Krisenkommunikation Der Skandal ist überall

Seite 2/4

Allzeit droht der Skandal

Gift, Spitzel, Sex
 Fahrzeuge passieren den Südeingang des Stammwerks der Hoechst AG in Frankfurt-Höchst Quelle: dpa/dpaweb
Die Ölbohrinsel "Brent Spar" Quelle: AP
Eine Mercedes A-Klasse hat sich bei einer Testfahrt der schewdischen Zeitung 'Teknikens Vorld' in Stockholm bei Tempo 60 überschlagen Quelle: AP
Päckchen des Medikaments Lipobay liegen auf einem Haufen Quelle: AP
Der damalige Volkswagen-Personalvorstand Peter Hartz (l) und der damalige VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Volkert (r) unterhalten sich Quelle: dpa
Das Logo der Deutschen Telekom Quelle: AP
Ein beleuchtetes Schild mit der Aufschrift «Ergo» steht vor der Zentrale der Versicherungsgruppe in Düsseldorf Quelle: dpa

Was von Gordon und ihre Mitstreiter erlebt haben, kann jedem Unternehmen in jeder Branche passieren – jederzeit. Seit 1984 ist die Zahl der kommunikativen Krisenfälle, auf die Unternehmen und politische Organisationen jährlich reagieren müssen, im deutschsprachigen Raum um knapp 75 Prozent gestiegen – von angeblich umweltverseuchenden Ölplattformen wie der von Shell und Esso in der Nordsee betriebenen Brent Spar über Autos, die bei Testfahrten umkippen wie die A-Klasse von Mercedes, bis hin zu Hackerangriffen auf sensible Informationen wie der auf die Kreditkartendaten der US-Großbank Citigroup vor einem Jahr.

Diagramm: Steigende Fieberkurve Quelle: Krisennavigator

Derzeit zählt der Krisennavigator, das Kieler Institut für Krisenforschung, rund 270 solcher Fälle pro Jahr. Statistisch betrachtet heißt das: Alle anderthalb Tage braut sich bei einem Unternehmen oder einer Organisation in Deutschland ein Skandal zusammen. Blieben früher viele dieser Pannen unentdeckt, weil es in der Regel professionellen Journalisten vorbehalten war, diese zu verbreiten, sie aber vergleichsweise wenig Möglichkeiten hatten, diese publik zu machen, sind die publizistischen Hürden heute deutlich niedriger. Damit ist der Druck auf Unternehmen, schnelle Antworten auf unangenehme Fragen zu geben, gleichzeitig wesentlich gewachsen. Internet, Smartphones, Tablet-Computer, Hunderte TV-Spartensender und die Allgegenwart sozialer Netzwerke erlauben es, Ungereimtheiten innerhalb weniger Minuten global zu verbreiten. Skandalisieren können heute nicht mehr nur Journalisten, sondern auch Mitarbeiter, Kunden oder Geschäftspartner: Sie alle können heute schnell und ohne Aufwand Misstrauen säen oder sich über Verfehlungen von Personen, Unternehmen und Organisationen schnell und flächendeckend Luft verschaffen – und mal eben eine Lawine der Empörung lostreten.

Mechanismen der Skandalisierung

Auch die Gegenstände der Skandalisierung Und das nicht mehr nur in den bisher traditionellen Konfliktthemen wie Korruption, Umweltzerstörung, verseuchten Nahrungsmitteln oder medizinischem Pfusch. „In Zukunft werden vor allem Missstände skandalisiert werden, die im Widerspruch zu nicht materiellen Werten stehen“, prophezeit Hans Kepplinger, Professor für Empirische Kommunikationsforschung an der Universität Mainz und Autor des Buchs „Die Mechanismen der Skandalisierung“.

Also etwa der Schutz von Anwohnern vor Fluglärm, tödliches Mobbing gegen Nutzer sozialer Netzwerke wie Facebook oder das weite Feld der alternativen Energien – wenn Häuser wegen falsch installierter Solarzellen auf den Dächern abbrennen, Windräder zusammenbrechen oder Gesundheitsschäden durch neue Hochspannungsleitungen bekannt werden.

Unter dem Druck des allzeit drohenden Skandals findet in der deutschen Wirtschaft ein kultureller Umbruch statt. Skandale zu vermeiden, einzudämmen und im schlimmsten Fall ohne dauerhafte Schäden zu überstehen wird für Unternehmen immer wichtiger – nicht aber einfacher: Denn nur etwa zwölf Prozent der kleinen oder großen Skandale betreffen eindeutige Rechtsverstöße, sagt Frank Roselieb, geschäftsführender Direktor des Krisennavigators. Diese erstaunliche Diskrepanz zeigt schon: Ob sich eine scheinbare Lappalie zu einem handfesten Skandal auswächst, hängt nicht davon ab, ob ein Missstand juristisch relevant ist, sondern für wie empörend er gehalten wird.

Dreisteste Werbelüge

Das musste kürzlich etwa Babynahrungshersteller Hipp erleben: Der bayrische Mittelständler fand sich Mitte Juni plötzlich als Träger des Anti-Preises Goldener Windbeutel wieder. Die Organisation Foodwatch vergibt ihn an Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie, die nach Ansicht der Organisation Verbraucher hinters Licht führen. Der Vorwurf: Einige Hipp-Kindertees enthielten zu viel Zucker – aus Sicht von 44 000 Verbrauchern, die über den Preisträger abstimmten, die „dreisteste Werbelüge“ des Jahres. Binnen weniger Stunden fanden sich Hunderttausende Fundstellen im Netz, die das Thema aufgriffen.

Hipps wenig souveräne Reaktion: Auf der Verpackung werde der Zuckergehalt transparent angegeben und entspreche dem einer Apfelsaft-Schorle, ließ das Unternehmen verlauten. Zudem hätten herkömmliche Säfte und Getränke für Kinder einen wesentlich höheren Zuckergehalt. Falsch waren die Aussagen nicht – zur Beruhigung der aufgebrachten Verbraucher aber trugen sie nicht bei. Das Unternehmen verkündete schließlich, die kritisierten Produkte würden zum Jahresende vom Markt genommen. Doch da hatte die Beliebtheit der Marke laut einer Imageanalyse des Markenmonitors YouGov BrandIndex bereits messbar gelitten.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%