Hand aufs Herz: Ein bisschen peinlich ist es schon, wenn man bei wichtigen Terminen seine Visitenkarten vergisst und zur Entschuldigung murmelt: „Ich maile Ihnen meine Daten.“ Warum? Weil man damit gegen eine uralte Regel verstößt, gegen ein Grundgesetz des Zusammenlebens: dass eine Gabe erwidert wird. Geben, Annehmen und Erwidern, in diesem Dreischritt, so erzählen die Soziologen, vollzieht sich das soziale Leben, vergewissern sich Menschen ihrer wechselseitigen Anerkennung – seit es Menschen gibt.
Zum Beispiel die Melanesier von den Trobriand-Inseln im westlichen Pazifik: Beim Kula-Tausch ließen die Häuptlinge Halsketten zirkulieren, deren Weitergabe freundschaftliche Gefühle unter den Insulanern hervorrufen sollte. Eine archaische Form des Tauschs, die sich unschwer in den Grußritualen der Geschäftswelt wiedererkennen lässt. Nur dass hier bei Nichterwidern keine Kriegserklärung droht. Ansonsten gilt: „Die Visitenkarte ist ein modernes Kula.“
Eine Transaktion wird zur Geschäftsbeziehung
So deutet sie der in Witten/Herdecke lehrende Philosoph und Managerberater Jürgen Werner. Auch in Zeiten digitalen Datentauschs habe das Hin und Her, das Geben und Nehmen der Karten, seinen humanen Sinn. Der Kartentausch zwischen zwei Geschäftsleuten verweise nämlich „auf etwas Drittes“. Er verwandle eine „Transaktion in eine Beziehung“. Indem wir unsere Visitenkarte reichen, so Werner, „öffnen wir uns dem anderen“ – und dürfen erwarten, dass unser Gegenüber sich uns ebenso öffnet. Visitenkarten sind, nach dem Gruß, die „zweite Gabe“. Ihre Botschaft: „Halte mich im Gedächtnis!“ „Damit du mich nicht vergisst, hinterlasse ich dir, wie ich heiße, was ich mache, welche Firma ich vertrete, wie man mich erreichen kann.“
Zur Entstehung der Visitenkarte
Ein Stück Werbung gehörte schon immer zur Visitenkarte, erst Recht seit Erfindung der Lithografie, die Metalliceffekte und mehrfarbigen Druck ermöglichte. Die Beispiele stammen aus Belgien um 1850: Der Waffenhersteller präsentiert sich mit Büchsen und Säbeln, der Pianist mit Harfe, der Hutmacher mit Namen und Relief. Die Karte des Kuperstechers mit Pferd und Sattelei kommt aus Österreich.
Visitenkarten sind Zeichen des Respekts. Goethes undatierte Karte trägt den handschriftlichen Zusatz: "Sich zu empfehlen".
Visitenkarten werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schlichter. Abraham Lincolns Karte stammt aus der Zeit, als er Anwalt in Springfeld war.
Warum Visitenkarten, diese harmlosen, kleinen, viereckigen Kartons, besondere Gaben sind? Weil bei ihnen Person und Sache ineinander übergehen, weil man im Akt des Gebens, wie Jürgen Werner sagt, „sich selber schenkt“, mit seinem Namen und dem Namen des Unternehmens, das man repräsentiert. Am Tausch-Zeremoniell, das die Chinesen veranstalten, ist die Symbolik dieses Transfers deutlich erkennbar: Man hält die eigene Karte mit beiden Händen in Brusthöhe, deutet eine Verbeugung an, überreicht die Karte dem anderen und nimmt im Gegenzug dessen Karte entgegen, die man andächtig studiert, bevor man sie in der Westentasche verschwinden lässt.
Auch in Europa ist der Gabencharakter, das Zeremonielle des Kartentauschs, noch erkennbar. Man überreicht seine Visitenkarte bei einem Meeting nicht irgendwie, sondern „im Stehen“, sagt Hubertus Graf Douglas, Deutschland-Chef der Personalberatung Korn Ferry. Karten gehören in der Geschäftswelt zum „Begrüßungsritual“, seien ein „integraler Teil des gegenseitigen Sich-Vorstellens“, vor allem: eine „Bestätigung der eigenen Position gegenüber Dritten“. Wer zum Vorstand befördert wird, bekommt neue Visitenkarten. Sie funktionieren, so Douglas, „wie der Name auf der linken Brusttasche und die Schulterklappen beim Militär“: Sie sagen, wen man vor sich hat und welchen Rang er bekleidet.
Dandys und andere Große
Das ist ihr Sinn, seit Ende des 17. Jahrhunderts, als die Visitenkarte eingeführt wurde, im Milieu der französischen Kaufleute. Händler, die etwas auf sich hielten, schmückten ihre Visitenkarten mit Wappen und Wahlsprüchen. Wer seine Antrittsvisite machte, gab dem Diener seine Karte mit Namen und Adresse, die er an die Herrschaft weiterreichte, wobei der Anlass des Besuchs auf der Karte vermerkt war. Etwa handschriftlich mit der Abkürzung „p. p. – pour présenter“ oder einem speziellen Knick in der Karte. Sogar Handwerker präsentierten Karten mit berufstypischem Zubehör oder allegorischen Hinweisen auf ihre Zunft.
Und natürlich, Parvenüs polierten ihre Herkunft mit geborgten Titeln auf. In seinem Roman „Glanz und Elend der Kurtisanen“, einem Panorama der mondänen Pariser Gesellschaft, lässt Balzac den angehenden Dandy Georges Destourny auftreten, der, wie es heißt, „seinen Namen folgendermaßen auf seine Visitenkarte drucken ließ: ‚Georges D’Estourny‘. Diese Karte gab seiner Persönlichkeit einen Anhauch von Aristokratie.“
Weniger ist mehr
Karten zeigen, wer man ist – oder sein möchte. Für Douglas, der seinen Adelstitel auf der Visitenkarte weglässt, funktionieren sie wie „Aushängeschilder“. Der CEO, den Vorstandsvorsitzende auf ihrer Karte stehen haben, demonstriere: „Hier kommt ein ganz Großer.“ Das müsse nichts Einschüchterndes, gar Bedrohliches haben. Visitenkarten würden auf Augenhöhe weitergegeben: „Wer von Herrn Kaeser die Karte bekommt, hat keine Angst vor Herrn Kaeser.“
Man sieht, Visitenkarten informieren nicht nur, sie markieren auch einen sozialen Abstand. Der Stuttgarter Designer Jochen Rädeker, der eine Sammlung historischer Visitenkarten besitzt, erzählt, in China sei es selbstverständlich, dass der Inhaber eines Unternehmens eine 400 Gramm starke Visitenkarte aus handgeschöpftem Papier besitzt, während der Assistent mit 200 Gramm Vorlieb nimmt. Das Prestige eines Geschäftsmanns in den USA ist auch an der Schriftprägung und Farbe des Papiers erkennbar. Die „Wall Street Yuppies“, die der amerikanische Autor Bret Easton Ellis in seinem Roman „American Psycho“ in einer New Yorker Bar zusammenführt, sind regelrechte Kartenfetischisten.
Nach den „Begrüßungs-Bellinis“ kommt es zum Showdown: Der Held der Geschichte holt seine neuen Visitenkarten aus seiner „Brieftasche aus Gazellen-Leder“, klatscht sie auf den Tisch, „elfenbeinfarben“, sagt er, „die Schrift heißt Silian Rail“ – und wird von den Kollegen gekontert, die ihrerseits ihre Visitenkarten zücken: „eierschalenfarben, Romana“, „erhabene Schrift, blasses Nimbus-Weiß“.
Visitenkarten sind eine kleine Bühne
Karten sind kleine Ausrufezeichen. Sie bieten auf einem Stückchen Karton, im 55-x-85-Format einer Kreditkarte, eine Miniaturbühne der Persönlichkeit. Man kann leise auftreten, wie der Architekt Hadi Teherani, auf dessen dunkelgrauer Karte in feinen weißen Lettern nur der Name steht, oder laut, wie der chinesische Recycling-Unternehmer Chen Guangbiao: Auf seinen selbst entworfenen Visitenkarten wirbt er mit dem Titel „berühmtester Wohltäter Chinas“.
Visitenkarten gehören zum Branding, sie sind Teil des Corporate Designs, das den Mitarbeiter auf der Visitenkarte als Firmenvertreter ausweist. Nicht zufällig ist sein Name in der Regel kleiner geschrieben als der des Unternehmens. Man drängelt sich nicht vor. Daher auch die Vorliebe der Geschäftswelt für neutrale, seriös wirkende Visitenkarten. Spielerisches ist verpönt, erst recht in konservativen Kreisen wie den Wirtschaftsprüfern oder den Bankern.
Schöne Visitenkarten unterscheiden sich im Detail, in der Feinheit der Typografie, in der Präsentation des Logos. Auf engstem Raum drückt sich hier aus, was Sigmund Freud den „Narzissmus des kleinen Unterschieds“ genannt hat. Jeder zweite Visitenkarten-Knigge warnt vor „witzigen“ Ideen. Trotzdem meinen manche Freiberufler, sie könnten sich dem Publikum durch ausgefallenes Design einprägen. Zum Beispiel der Käsehändler, der mit einer Miniatur-Käsereibe als Visitenkarte wirbt. Der Sommelier, dessen Karten Glasränder von Rotwein schmücken. Die Hebamme, aus deren Kartenhülle auf Druck die Karte am Faden herausfällt. Der Scheidungsanwalt, dessen Karte dank Perforation in der Mitte in zwei Teile getrennt werden kann. Solche Gimmicks, meinte der „Economist“ jüngst, langweilen schnell – „oder kratzen unangenehm, wie im Fall der Käse-Karte“.
Repräsentation und Information
Auf die klassische Visitenkarte gehört nur der Name, bemerkt Asfa-Wossen Asserate, der Autor der „Manieren“, „was man sonst noch von sich mitteilen möchte, schreibt man dazu“. Hans-Georg Pospischil, Professor für Kommunikationsdesign an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, wundert sich, dass dieses „Dazu“ immer mehr wird. Die meisten Visitenkarten seien „überfrachtet mit Daten“. Man fühle sich „nicht mehr beschenkt, sondern belästigt“. Pospischils Vorschlag: Die repräsentative Funktion der Karte von der informativen Funktion zu trennen. Auf der Vorderseite der Karte steht das Logo, auf der Rückseite stehen die Daten zur Person. Oder, noch besser, man gibt auf seiner Karte nur die Internet-Adresse an: Die „com-Karte“, so Pospischil, lenke die Aufmerksamkeit auf die Web-Site, die alle wichtigen Kontaktinformationen versammelt und damit zur erweiterten Visitenkarte wird.
Tatsächlich tauscht man in der Start-up-Szene Visitenkarten fast nur noch elektronisch aus, etwa indem man seine Smartphones aneinanderhält. Trotzdem, Nachrufe auf die Visitenkarte sind verfrüht. Selbst im Silicon Valley, weiß der „Economist“ zu berichten, überreicht man immer noch Karten aus Papier: Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, auf dessen Visitenkarte eine Zeit lang „I’m CEO, bitch“ stand, händigt Geschäftspartnern inzwischen eine feine, erwachsen gewordene Visitenkarte aus. Auch der digitalisierte Zeitgenosse hält sich offenbar gern an das kleine Viereck, wenn er sich einen Namen in Erinnerung rufen will. Dass man bei einem Meeting statt auf die Visitenkarte auf sein iPhone schaut, um sich zu vergewissern, wie der andere heißt, findet Hubertus Graf Douglas „peinlich“.
Offenbar lässt sich eine Verbindung zwischen zwei Menschen, ein Wir-Gefühl, gestisch besser bekräftigen als digital. Karten verpflichten. Man mache nur einmal die Probe und rufe einen indischen Geschäftsmann an, der einem seine Karte beim Stehempfang zugesteckt hat: Sofort ist man wieder im Gespräch.
Kein Wunder, dass Karten sogar in der Szene der Hipster und Nerds wieder „schick“ sind. Der Kartentausch gehört zu den vertrauensbildenden Maßnahmen. Er ist und bleibt, um mit dem Frankfurter Soziologen Tilman Allert zu reden, ein „Türöffner der Kommunikation“. Die Karte, die man seinem Gegenüber gibt, verspricht Erreichbarkeit. Sie ist, im wahrsten Sinne des Wortes, eine verbindliche Zwischenmenschlichkeit. Ihre Botschaft heißt: Vergiss mich nicht!
Freilich, erst wer diese Erinnerung nicht mehr braucht, hat es wirklich geschafft. „Wir arbeiten alle daran“, so Jürgen Werner, „die Visitenkarte zu überwinden.“ Ob Angela Merkel eine Visitenkarte hat? Vielleicht. Aber nötig hat sie sie nicht.