Interview mit Hamburger Grünen-Fraktionschef „Vor uns muss niemand Angst haben“

Jens Kerstan ist Spitzenkandidat der Hamburger Grünen. Im Interview sagt er, warum Vorbehalte der Wirtschaft gegen seine Partei unbegründet sind und es besser für die Stadt wäre, wenn die AfD nicht ins Parlament käme.

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Der Spitzenkandidat der Grünen für die Hamburger Bürgerschaftswahl, Jens Kerstan: Koalition mit SPD? Nicht um jeden Preis! Quelle: dpa

Eigentlich kann Jens Kerstan frohes Mutes in die Zukunft blicken. In den jüngsten Umfragen zur Hamburger Bürgerschaftswahl verliert die SPD ihre absolute Mehrheit. Dann käme er und seine Grünen zum Zug. Der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hatte schon angekündigt, dass er im Fall der Fälle mit den Grünen koalieren wolle. Doch Spitzenkandidat Kerstan hält das für noch nicht ausgemacht. Nicht, weil die Wirtschaft der Hansestadt damit ein Problem hätte, sondern weil der „selbstgefällige“ Scholz dann zu einem grundsätzlichen Kurswechsel bereit sein müsste.

Herr Kerstan, welche Regierungsfarbe wäre besser für Hamburg: Rot oder Rot-Grün?

Jens Kerstan: Hamburg braucht eindeutig mehr Grün. Die absolute Mehrheit der SPD ist nicht gut für diese Stadt. Die Selbstzufriedenheit der SPD und ihre Innovationsunfähigkeit tun einer Wirtschaftsmetropole wie Hamburg nicht gut. Zukunft und SPD passen nicht zusammen. Deshalb haben wir Grünen eine wichtige Rolle. Wobei wir nicht für eine Regierungskoalition streiten, sondern für grüne Themen.

Derzeit sieht es auch nicht danach aus, dass es für eine absolute Mehrheit der Sozialdemokraten reicht. Gedanklich können Sie sich also schon einmal damit anfreunden, bald mitzuregieren?

Wir haben durchaus den Anspruch zu regieren. Das werden wir aber nicht um jeden Preis machen. Die SPD muss dafür in wichtigen Themenbereichen ihren Kurs ändern.

In welchen?

Das ist zum Beispiel der Bereich Umwelt, Energie, Klima, der unter der SPD praktisch gar nicht mehr stattfindet. Uns ist außerdem wichtig: Eine moderne Verkehrspolitik, die stärker auf Radfahren, zu Fuß gehen und den Ausbau des Schienennetzes setzt. Ferner: Eine Qualitätsoffensive in der Bildung – von der Kita über die Schule bis hin zu den Wissenschaften. Hamburg kann sich einen Studienplatzabbau, wie er von der SPD betrieben wird, nicht mehr leisten. Und zum anderen wollen wir die vielfältige und tolerante Stadt Hamburg stärken. Hier soll jeder eine Chance haben, egal, wo er herkommt, welche Religion er hat oder welchen Lebensstil er pflegt.

Und dafür steht die SPD nicht?

Die SPD hat für diese Themen kein Händchen. Deshalb warten wir ab, ob die SPD zu einem grundlegenden Kurswechsel bereit ist. Wenn das nicht der Fall ist, werden wir für unsere Themen weiter aus der Opposition streiten.


„Wirtschaft sitzt unrealistischen Versprechen der SPD auf“

Die Hamburger Wirtschaft wäre es sowieso lieber, die Grünen würden in der Opposition bleiben. Der Chef des Industrieverbands Hamburg (IVH), Michael Westhagemann, hofft jedenfalls, dass die SPD alleine weiterregieren kann. Woher kommt diese Abneigung gegenüber den Grünen?

Die Wirtschaft sitzt den unrealistischen Versprechen der SPD auf. Der Senat hat ein demonstratives Desinteresse an Umweltthemen, hält sich in dieser Hinsicht nicht an Recht und Gesetz und lässt sich lieber verklagen …

… Sie meinen die Elbvertiefung ...

… ja, aber auch die Luftreinhaltung. Der Senat hat einen Plan vorgelegt und von Anfang gesagt, dass damit die EU-Norm nicht erfüllt werde. Dass dann Umweltverbände vor Gericht erfolgreich sind, ist wenig überraschend. Das dürfte kaum im Sinne der Wirtschaft sein. Deshalb kann ich auch nicht nachvollziehen, dass die SPD uns Wirtschaftsfeindlichkeit vorwirft. Das ist eine rein parteitaktische Strategie, um die absolute Mehrheit zu behalten.

Vor uns muss niemand Angst haben. Im Gegenteil: In der Wirtschaft gibt es viele Branchen und Unternehmen, die auf uns setzen, beispielsweise in der IT- und Kreativwirtschaft oder im Energiebereich. Auch die tonangebende Handelskammer äußert sich weit vorsichtiger als der Industrieverband.

Wie wichtig ist die Elbvertiefung für die ökonomische Entwicklung der Hansestadt?

Die Elbvertiefung wird ökonomische Effekte haben. Sie wird aber dauerhaft die Probleme des Hamburger Hafens nicht lösen. Die Zeit, wo die größten Schiffe Hamburg voll beladen erreichen können, ist ohnehin längst vorbei. Das wird auch eine tiefere Fahrrinne in der Elbe nicht ändern.

Dann sind Sie für einen Verzicht?

Wir sind der Auffassung, dass der Hamburger Hafen sich für die Zeit wappnen muss, wenn die ganz großen Schiffe nicht mehr kommen. Deshalb halten wir den Zwischenschritt einer Elbvertiefung mit sehr großem Aufwand und hohen ökologischen Kosten und Risiken für falsch. Diese Frage wird aber nicht mehr politisch entschieden. Der nächste Senat wird umsetzen müssen, was das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.


„SPD-Drohungen in Richtung der Gerichte sind nicht zielführend“

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird es ja auch noch geben. Olaf Scholz meinte, was die Gerichte zur Elbvertiefung entscheiden, sei „ein Präzedenzfall für ganz Europa“. Teilen Sie die Auffassung?

Diese Äußerung des Ersten Bürgermeisters ist Ausdruck seiner Selbstüberschätzung. Solche Drohungen in Richtung der Gerichte sind nicht zielführend. Es muss jetzt vielmehr darum gehen, dass sich Hamburg, aber auch die Hamburger Wirtschaft an den Gedanken gewöhnen, sich an Umweltgesetze halten zu müssen, die für ganz Europa gelten.

Sie rechnen also damit, dass die Elbvertiefung unter Auflagen genehmigt wird.

Der Generalstaatsanwalt des EuGH hat sich ja bereits in die Richtung geäußert, dass die Wasserrahmenrichtlinie eng ausgelegt wird.

Das wäre ein Erfolg für die Grünen, auch wenn Sie eigentlich das ganze Projekt für falsch halten.

Letztendlich wird sich das alles noch lange hinziehen. Selbst wenn eine Genehmigung unter Auflagen erteilt wird, wird sich die Politik noch sehr lange mit diesen Auflagen auseinandersetzen müssen. Dann wird es hoffentlich endlich auch Gespräche zwischen Wirtschaft und Umweltverbänden geben.

Worum soll es in solchen Gesprächen gehen?

Wir hoffen auf eine Verständigung beider Seiten. Unser Konkurrenzhafen Antwerpen hat das längst geschafft. Dort wurde nicht auf eine maximale Vertiefung gesetzt. Und es wurden deutliche Verbesserungen im Umwelt- und Flussbereich ausgehandelt. Hier in Hamburg wird immer noch ein Kulturkampf ausgefochten. Wir wollen deshalb versuchen, auf Basis der Gerichtsentscheidungen einen Dialogprozess zwischen Wirtschaft und Umweltverbänden in Gang zu setzen.

Wann könnte denn begonnen werden mit der Elbvertiefung?

Unabhängig von der wasserrechtlichen Problematik, die der EuGH in den Blick nimmt, hat ja der Verwaltungsgerichtshof auch die restliche Planung für weitgehend rechtswidrig erklärt. Die geforderten Änderungen werden auf jeden Fall mehrere Jahre dauern. Ich schätze mal, dass wir hier frühestens 2017 oder 2018 zu Ergebnissen kommen werden, vielleicht auch später.


„AfD-Wahlerfolg ist eine reale Gefahr“

Der Wirtschaftsmann Westhagemann sieht als eines der wichtigsten Zukunftsthemen für Hamburg den Ausbau und die Modernisierung der Verkehrswege. Er kann sich deshalb auch ein eigenes Infrastruktur-Ressort vorstellen – Sie auch?

Hamburg muss bei der Verkehrsinfrastruktur, aber auch beim Hafen Prioritäten setzen. Ich bezweifle, dass dafür ein eigenes Ministerium notwendig ist. Wichtiger wäre eine politische Verständigung darüber, welche Projekte wichtig sind und schnell realisiert werden sollen.

Welche Rolle spielt die aktuelle Bedrohungslage im Wahlkampf?

Das Thema steht nicht im Mittelpunkt des Wahlkampfs. Uns freut auch, dass es keine Pegida-Demonstrationen in Hamburg gibt. Ich habe den Eindruck, dass die Hamburger kein Interesse daran haben, nach Sündenböcken zu suchen und die Gesellschaft zu spalten. Ich würde mir sehr wünschen, dass von der Wahl das Signal ausgeht, dass rechtspopulistische Bewegungen wie die AfD keine Chance an den Wahlurnen haben. In der Vergangenheit war das ja nicht immer so. Aber: Eine Schill-Partei 2.0 kann Hamburg nicht gebrauchen.

Der Hamburger AfD-Spitzenkandidat Kruse hat die Ereignisse in Frankreich zum Anlass genommen, handfestere Reaktionen zu fordern. Und die scharfe Rhetorik scheint der Partei sogar zu nützen. Obwohl sie im Bürgerschaftswahlkampf bislang kein zündendes lokales Thema gefunden hat und laut einer aktuellen Umfrage des NDR sogar die meisten Hamburger mit der Arbeit des Senats zufrieden sind, spürt die Partei grade Rückenwind und könnte in die Bürgerschaft einziehen…

Das ist eine reale Gefahr. Die AfD versucht in unverantwortlicher Weise, auf der Pegida-Welle zu surfen und parteipolitischen Nutzen aus den furchtbaren Geschehnissen in Frankreich zu ziehen. Mein Wahrnehmung ist aber auch, dass die Hamburger für Freiheit und Vielfalt sind und nicht für Angstmacherei. Auch populistische Forderungen nach schärferen Gesetzen und Abschaffung von Freiheitsrechten führen da nicht weiter. Harte Überwachungs-Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung hatten ja in Paris gar keinen Effekt. Man konnte damit die Anschläge nicht verhindern.

Auf Bundesebene wird derzeit über die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung debattiert. Würde ein rot-grüner Senat dieses Instrument im Bundesrat absegnen?

Egal, was auf der Welt geschieht, als erstes kommt reflexhaft der Ruf nach einer Vorratsdatenspeicherung. Wir Grüne halten davon nichts. Die Anschläge von Paris haben gezeigt, dass die Sammlung von Kommunikationsdaten mit der Verhinderung solcher Taten nichts zu tun hat. In Frankreich waren die Täter ja außerdem bekannt. Sie wurden von der Polizei nur nicht richtig überwacht. Deswegen ist es sinnvoller die Sicherheitsbehörden, den Verfassungsschutz und die Polizei, so auszustatten, dass eine wirksame Terrorabwehr möglich ist. Die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung ist reine Symbolpolitik ohne effektiven Nutzen. Das ist für uns der falsche Weg.


„Mit der Pegida-Spitze muss man keine Gespräche führen“

Die AfD pflegt eine gewisse Nähe zur Anti-Islam-Bewegung Pegida. Es könnte als schon sein, dass die AfD auf diese Weise viele Unzufriedene anlockt. Leute, die vielleicht kein Problem mit dem Hamburger Senat haben, aber vielleicht mit den etablierten Parteien?

Natürlich versucht die AfD eine allgemeine Unzufriedenheit zu bündeln und Verbündete in der Gesellschaft zu suchen. Ich hoffe, dass das in Hamburg nicht auf fruchtbaren Boden stößt. Wir haben hier sehr viele Bürger, die Kontakte zu Migranten haben. Der überwiegende Teil der hier lebenden Ausländer ist zudem gut integriert. Dennoch: Es ist Aufgabe der Politik, Ängste ernst zu nehmen und aufzugreifen.

Ist es in einer solchen Situation richtig, der Pegida-Bewegung Gespräche anzubieten?

Mit der Pegida-Spitze muss man keine Gespräche führen. Wenn man sieht, wie die Organisatoren sich trotz scheinbar moderater Forderungen immer mehr als Wölfe im Schafspelz entlarven, dann plädiere ich hier für klare Kante. Mit Rechtspopulisten, die auf unverantwortliche Art und Weise Ressentiments schüren, sollten wir keinerlei Dialog führen.

Und mit den Anhängern, den „normalen“ Leuten?

Es ist Aufgabe der Politik, in die Bevölkerung hineinzuwirken. Das kann beispielsweise durch Gesprächsforen geschehen. Allerdings stammen wohl viele der Pegida-Anhänger aus dem Nichtwählerbereich. Solche Leute sind für die Politik generell sehr schwer zu erreichen.

Die Pegida-Leute treten ja auch für eine restriktivere Flüchtlingspolitik ein. Wie ist in dieser Hinsicht die Situation in Hamburg?

Hamburg ist eine sehr reiche Stadt, die vom Welthandel und vom Austausch mit der Welt lebt. Deshalb haben wir auch eine besondere Verantwortung, uns um Menschen zu kümmern, die verfolgt und bedroht wurden und Schlimmes erlebt haben. Hamburg unternimmt bereits große Anstrengungen, um Flüchtlinge unterzubringen. Wir sind der Ansicht, dass sich Hamburg das leisten und deshalb auch noch mehr machen kann. Außerdem gibt eine nie dagewesene Solidarität und Hilfsbereitschaft aus der Zivilgesellschaft.

Was halten Sie von einer Gesetzesinitiative des Senats, mit der ermöglicht werden soll, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge zukünftig gerechter auf alle Bundesländer zu verteilen?

Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass sich Hamburg als reiche Welthandelsstadt seiner Verantwortung entzieht. Man kann sicher darüber sprechen, ob es sinnvoll ist Flüchtlinge in anderen Bundesländern unterzubringen. Wenn es aber nur darum geht, Kosten auf andere Bundesländer abzuwälzen, dann werden wir das nicht unterstützen. Vorrangiges Ziel sollte deshalb sein, für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge die bestmögliche Betreuung anzubieten.

Sie sind schon einige Jahre Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft. In welcher Funktion werden wir Sie nach der Wahl sehen?

Wir verteilen das Fell des Bären nicht, bevor er erlegt ist. Die absolute Mehrheit der SPD ist noch keineswegs sicher verhindert. Ob es am Ende zu einer rot-grünen Koalition kommt, werden der Wahltag und mögliche die Verhandlungen zeigen. Aber in der Regel ist es so, dass Spitzenkandidaten das erste Zugriffsrecht haben, wenn es um die Verteilung von Regierungsämtern geht. Das wird in Hamburg auch so sein.

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