Der nächste Punkt, bei dem die Wahrnehmungen diametral auseinander liegen, ist das im Frühjahr stattfindende Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems. Während Erdogan und seine Anhänger das neue System als Ausdruck des Volkswillen betrachten, das das Land regierbarer und reformfähiger machen sollen, sehen Kritiker im Ausland wie in der Türkei es als Sargnagel der türkischen Demokratie. Manche Investoren hoffen zumindest, dass mit der Einführung des Präsidialsystems Ruhe einkehrt, und mit der Unsicherheit auch die Polarisierung der türkischen Gesellschaft wieder abnimmt.
Ein EU-Beitritt des Landes aber ist in weite Ferne gerückt. Zwar laufen die Beitrittsverhandlungen offiziell weiter. Doch von den 33 Kapiteln ist gerade einmal eines (Wissenschaft und Forschung) abgeschlossen, 15 wurden noch nicht einmal eröffnet. Problematisch ist dabei auch, dass die EU-Euphorie der Türken rapide abgenommen hatten. Waren 2004 noch eine Mehrheit der Türken für einen EU-Beitritt, sind heute 70 Prozent dagegen. Auch Oppositionelle fühlen sich von der EU hingehalten, oder als mehrheitlich moslemisches Land ungewollt.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Daran wird Angela Merkel nichts ändern: Sie war es, die 2004 den - schön klingenden, aber nichtssagenden - Begriff der "privilegierten Partnerschaft" prägte. Mit dem Brexit haben die Türken auch innerhalb der EU ihren wichtigsten Fürsprecher Großbritannien verloren.
Und wirtschaftlich? Die Terroranschläge im vergangenen Jahr und das rigide Vorgehen der türkischen Regierung gegen vermeintliche Gülen-Anhänger haben tiefe Spuren hinterlassen. Deutsche Unternehmen berichten von massiven Schwierigkeiten, überhaupt noch Expats rekrutieren zu können. Zwar halten Großkonzerne zumeist an ihren geplanten Investitionen fest. Kleinere Mittelständler aber scheuen die Türkei aufgrund der politischen Lage. Die Lira hat in den letzten Monaten 30 Prozent ihres Werts verloren.
Natürlich spürt Iyzico auch die aktuellen politischen Ereignisse, auch wenn sich diese eher positiv auf das Geschäft auswirken. „Menschen scheuen sich aktuell vor großen Investitionen in Immobilien oder Autos, geben eher Geld für Kleidung oder Elektronik aus", sagt Gründer Özbugutu. "Aber das ist nicht unbedingt schlecht für uns: Es bleiben auch mehr Leute daheim und kaufen online ein."
Chronologie: Schwere Anschläge in der Türkei
Bei einem Doppelanschlag im Istanbuler Stadtteil Besiktas nahe einem Fußballstadion sterben am 10. Dezember mindestens 45 Menschen, überwiegend Polizisten. Zu den Anschlägen bekennt sich die TAK, eine Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Eine Woche später kommen in der zentraltürkischen Stadt Kayseri bei einem Selbstmordanschlag mindestens 13 Soldaten ums Leben. Der Attentäter hat eine Autobombe neben einem Bus mit Militärangehörigen gezündet haben. Auch hierzu bekennt sich die TAK. Am 19. Dezember wird der russische Botschafter Andrej Karlow in Ankara von einem türkischen Polizisten niedergeschossen. Die türkische Regierung verdächtigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Attentat zu stecken.
Bei einem Autobombenanschlag in der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir werden mindestens elf Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten. Erstmals übernimmt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Verantwortung. Auch die TAK bekennt sich zu der Tat. Zu der Explosion war es kurz nach den Festnahmen von zwölf Abgeordneten der pro-kurdischen HDP gekommen.
In der südosttürkischen Provinz Hakkari bringt ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster vor einem Kontrollposten der Gendarmerie zur Explosion. Bei dem Selbstmordanschlag der PKK kommen 16 Menschen ums Leben.
Ein Attentäter sprengt sich inmitten einer kurdischen Hochzeitsfeier in der südtürkischen Stadt Gaziantep in die Luft. Es gibt mehr als 50 Tote.
Am internationalen Terminal des Atatürk-Flughafens in Istanbul sprengen sich drei Selbstmordattentäter in die Luft. Sie reißen 45 Menschen mit in den Tod. Die türkische Regierung macht den IS dafür verantwortlich.
Bei einem Autobombenanschlag in der Hauptstadt Ankara werden mindestens 37 Menschen getötet. Zu dem Anschlag bekennt sich die TAK.
Bei einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi im Regierungsviertel von Ankara sterben 30 Menschen, darunter der Selbstmordattentäter. Zu dem Attentat bekennt sich die TAK.
Bei einem Anschlag im historischen Zentrum Istanbuls werden zwölf Deutsche getötet. Der Angreifer sprengt sich mitten in einer deutschen Reisegruppe in die Luft. Er gehörte nach Angaben der türkische Regierung dem IS an.
Am Rande einer regierungskritischen Demonstration in der Hauptstadt Ankara reißen zwei Sprengsätze mehr als 100 Menschen in den Tod. Die Staatsanwaltschaft macht den IS dafür verantwortlich.
Tatsächlich ist die Zahl der deutschen Unternehmen in der Türkei sogar gestiegen und hat mit über 6800 einen neuen Höchststand erreicht. Für die Türkei ist und bleibt Deutschland der wichtigste Handelspartner. Das Volumen lag 2015 bei 36 Milliarden Euro. Dieses Jahr sollen Verhandlungen mit der EU über eine Vertiefung der Zollunion beginnen. Die dürfte den Warenaustausch nochmals erhöhen. Hinzu kommt das Humankapital.
Drei Millionen türkisch-stämmige Menschen leben in Deutschland. Sie oder ihre Eltern und Großeltern kamen ab den Sechzigern als Gastarbeiter. In den Nuller Jahren gingen manche der Kinder und Enkelkinder wieder ins Land ihrer Vorfahren, weil sie wegen der Dynamik der Türkei bessere Chancen für sich sahen. Die Chancen mögen sich in den letzten Jahren verschlechtert haben - die Verbindungen zwischen den beiden Ländern aber bleiben bestehen.
In den nächsten Jahren will Iyzico expandieren - in Märkte wie Bulgarien oder Griechenland, aber auch in Westeuropa. Gerade erst ist ein deutscher Freund von Özbugutu eingestiegen, der von München aus Expansionspläne koordiniert.