Terror in der Türkei Daheim bleiben? Bringt nichts!

Nach dem vierten Terroranschlag in drei Monaten sucht das Land nach einer neuen Form von Normalität. Doch keine Angst zu haben lässt sich nicht verordnen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Philipp Mattheis. Quelle: Privat

Den Knall habe ich nicht gehört, obwohl meine Wohnung nur ein paar Minuten von dem Anschlagsort entfernt liegt. Ich bin am Samstag gerade mit dem Frühstück fertig, als die ersten Nachfragen aus Deutschland kommen: Bist du okay? Ich gehe raus, die steile Straße vom Galata-Turm hinauf Richtung Istiklal. Die 1,5 Kilometer lange Einkaufsstraße zieht sich wie eine Schlagader durch den europäischen Teil der Stadt. Sie führt zum Taksim-Platz, hinter dem der Gezi-Park anschließt. Tausende Leute drängen sich an normalen Tagen hier. Jetzt ist die Straße auf ihrer vollen Länge abgesperrt. Ein Hubschrauber kreist am grauen Himmel.

Fünf Tote lese ich inzwischen auf einer Nachrichtenseite. Das vierte Attentat in drei Monaten in der Türkei, jedes Mal war es weit weg, plötzlich ist es ganz nah. Es hatte Hinweise gegeben. Seit Donnerstag waren das deutsche Generalkonsulat und die deutsche Schule geschlossen. Bürgern wurde empfohlen, die Gegend zu meiden. Die deutsche Schule musste am Freitag wieder öffnen. Die Behörden meinten, man solle keine Panik schüren.

„Bleib heute bitte daheim“, schreibt Dilan, eine türkische Freundin, und dann, dass sie endlich aus diesem Land raus will.

Was soll ich antworten? Ich bin erst vor zwei Monaten hierher gezogen. Istanbul ist die schönste Stadt, die ich kenne: das Meer, das Licht, die Sesamkringel. „Ja, Istanbul ist wunderschön“, schreibt sie. „Aber die Türkei geht jetzt den Bach runter. Es wird jetzt immer mehr Anschläge geben.“ Dilan ist 25 Jahre alt und hasst wie viele säkulare, junge Türken die AKP-Regierung. Ihre Frustration mit der Politik Erdoğans wird durch die Anschläge zur Resignation.

Ich gehe Richtung Taksim-Platz, wo ich mit dem Leiter einer deutschen Stiftung zum Mittagessen verabredet bin. „Sie tragen Schwarz“, sagt er, als er mich sieht. „Das passt ja gut.“ Wir lachen. Galgenhumor. Aber es hilft. Wir sprechen darüber, dass die Wahrscheinlichkeit im Istanbuler Straßenverkehr umzukommen, doch viel höher sei. 10.000 Verkehrstote jedes Jahr in der Türkei! Bleibt man deswegen daheim? Natürlich nicht. Angst haben bringt doch nichts.

Das Problem ist nur: Das eine ist ein Fakt, die Angst vor einem Attentat ein Gefühl. Gefühl sticht Fakt. Deswegen funktioniert Terrorismus. Keine Angst zu haben lässt sich nicht verordnen.

In meinem Türkischkurs sind wir zu viert – normalerweise sitzen hier zehn Teilnehmer. Wer nicht kommen möchte, erhält die Stunde gutgeschrieben, heißt es seitens der Sprachschule. Mein Sitznachbar hat heute nicht die U-Bahn genommen, sondern ein Taxi.

Dort, wo die Bombe explodierte, liegen jetzt Blumen. Türkische Flaggen wehen im Frühlingswind. Die Geschäfte auf der Istiklal sind wieder geöffnet, die Sesamkringel-Verkäufer zurückgekehrt.

Normalität ist wie ein scheues Tier. Sie kehrt immer wieder zurück, doch sie bewegt sich langsam und vorsichtig. Die größte Angst der Istanbuler: dass sie eines Tages für immer verschwinden könnte.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%