Aus Protest gegen die Verhaftung ihrer Vorsitzenden und zahlreicher weiterer Abgeordneter hat die pro-kurdische HDP einen weitgehenden Boykott des Parlaments der Türkei beschlossen. Die zweitgrößte Oppositionspartei in der Nationalversammlung in Ankara teilte am Sonntag mit, sie ziehe sich zunächst aus allen Gesetzgebungsverfahren zurück. Über das weitere Vorgehen werde sie mit ihren Anhängern beraten.
Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir sagte der Deutschen Presse-Agentur, eine denkbare Option sei die Aufgabe der 59 Mandate der Partei im Parlament. Vorerst werde die Fraktion sich aber weiter treffen. Die HDP nannte die Verhaftungen den „umfassendsten und schwärzesten Angriff in der Geschichte unserer demokratischen Politik“.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete die HDP-Abgeordneten am Sonntag erneut als verlängerten Arm der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als Terrororganisation verboten ist. „Wenn Sie sich nicht wie ein Abgeordneter, sondern wie ein Terrorist verhalten, dann werden Sie wie ein Terrorist behandelt“, sagte er in Istanbul. Niemand in der Türkei stehe über dem Gesetz.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Am Freitag war gegen die HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sowie gegen sieben weitere Abgeordnete der Partei wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft verhängt worden. Am Samstag kamen außerdem der Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, Murat Sabuncu, und acht seiner Mitarbeiter wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
Erdogan wies internationale Kritik sowohl an der jüngsten Verhaftungswelle als auch an seinem Regierungsstil zurück. Er sagte: „Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt.“
Der türkische EU-Minister Ömer Celik lud die Botschafter der EU-Staaten in Ankara für Montag zu einem Treffen ein. Bei dem Arbeitsfrühstück solle es um die „neuesten Entwicklungen“ in der Türkei gehen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Die Verhaftungen sind in der EU auf scharfe Kritik gestoßen. Der deutsch-türkische Abgeordnete Pir sagte zu dem weitgehenden Rückzug aus dem Parlament: „Wir werden nicht am Plenum und nicht an den Ausschüssen teilnehmen.“ Die HDP-Fraktionssitzungen im Parlament sollten aber weitergeführt werden. Fraktionschef Idris Baluken gehört zu den Abgeordneten, die in Untersuchungshaft sitzen.
Pir war nach seiner Festnahme am Freitag wieder freigelassen, aber mit einem Ausreiseverbot belegt worden. Er sagte am Sonntag: „Wir werden uns zurückziehen und in den nächsten zwei, drei Wochen mit der Bevölkerung und den demokratischen Kräften in der Türkei diskutieren, wie wir weitermachen. Dann entscheiden wir. Wir halten uns alle Optionen offen.“ Denkbar seien auch „eine Rückkehr zur parlamentarischen Arbeit oder die Aufgabe der Mandate“. Er fügte hinzu: „Wir geben die Entscheidung an unsere Wähler ab.“ Am Samstagabend setzte die Polizei nach einer Kundgebung der HDP in Istanbul Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschosse ein, wie Teilnehmer berichteten. Auf Plakaten forderten Demonstranten „Demokratischen Widerstand gegen jede Art von Putsch“ und „Fasst unsere Vorsitzenden nicht an“. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan geht im Ausnahmezustand mit harter Hand gegen Kritiker vor.
Sowohl die Festnahmen der HDP-Abgeordneten als auch das Vorgehen gegen die Journalisten riefen international Kritik hervor. Die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter werden beschuldigt, die PKK und die islamische Gülen-Bewegung unterstützt zu haben. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich. Gülen weist das zurück.