Der Friedensforscher Werner Ruf sagte mir im Interview, beim IS ginge es vor allem „um Armut, nicht um Religion“ . Ist das auch Ihre Einschätzung? Was ist denn die Motivation der IS-Kämpfer? Warum tauschen sie mit Begeisterung ihren PC und ihre Playstation gegen ein Plumpsklo aus?
Armut weniger. Stattdessen ihre Diskriminierung als Muslime, unsere massiven Ungerechtigkeiten gegenüber der muslimischen Welt, die sie ständig im Fernsehen oder im Internet sehen, sowie der Glaube, Teil einer großen historischen Auseinandersetzung zu sein. Das trägt sie und lässt sie viele Widrigkeiten vergessen. Um die Jungfrauen im Paradies geht es ihnen weniger.
Die westliche Gewalttätigkeit sprengt, wie der Krieg gegen den Irak und auch der alltägliche Drohnenkrieg zeigen, ja oft in der Tat alle Grenzen. Quantitativ ging sie sogar weit über das hinaus, was uns der brutale IS-Terrorismus heute vorführt.
Angriffskriege und krasse Ungerechtigkeiten sind aber ein Bumerang, der am Ende fast immer als Terrorismus zurückkommt. Der Westen bekämpft letztlich seine eigene Gewalt, wie Sartre einmal sagte. Das kapieren viele westliche Politiker leider nicht.
Die IS-Kämpfer sehen im sogenannten Islamischen Staat nun die Chance, sich erfolgreich gegen die Ungerechtigkeiten und Kriege des Westens zu wehren. Sie sehen sich auf einer historischen Mission. Sie wollen Weltgeschichte schreiben. In manchem erinnert mich das an die Kreuzzüge, die genauso wenig christlich waren, wie der IS beziehungsweise dessen Taten nun islamisch sind. Und es erinnert mich an die jungen Nazis.
Einsatz gegen Terrorverdächtige: Islamisten-Szene verstärkt im Visier
Seit den Attentaten in Frankreich schauen sich auch die deutschen Sicherheitsbehörden die islamistische Szene besonders genau an. Die rund 260 „Gefährder“, denen Polizei und Geheimdienste grundsätzlich einen Terrorakt zutrauen, werden seitdem noch intensiver beobachtet. Schon in den Wochen vor den Anschlägen in Frankreich gab es aber eine Vielzahl von Durchsuchungen und Festnahmen: Beim Bundeskriminalamt (BKA) laufen bereits rund 500 Ermittlungsverfahren gegen etwa 800 Beschuldigte aus dem islamistischen Spektrum. Solche Aktionen bekommen nun eine größere Aufmerksamkeit. Aus Sicherheitskreisen ist aber auch zu hören, der Druck auf die Szene werde nach Paris erhöht. Mancher Zugriff werde wegen die aktuelle Lage vorgezogen, um die Szene zu stören und die Botschaft zu senden: Wir haben euch im Blick.
Deutschland ist seit langem im Visier von islamistischen Terroristen. Über Monate lautete die Sprachregelung, es gebe eine „abstrakt hohe“ Gefährdung, aber keine konkreten Hinweise auf Anschlagsplanungen. Auch kurz nach den Attentaten von Paris benutzte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) noch diese Wendung. Der Zusatz, es gebe keine konkreten Hinweise, ist inzwischen aber nicht mehr zu hören. Der Grund: Seit Paris häufen sich auch die Drohungen gegen Deutschland. Die Behörden müssen in jedem einzelnen Fall prüfen, ob etwas dahinter steckt oder es sich nur um Wichtigtuerei handelt. „Die Lage ist ernst, es besteht Grund zur Sorge und Vorsorge, jedoch nicht zu Panik und Alarmismus“, sagt de Maizière inzwischen. Doch auch er räumt ein, dass ein Anschlag in Deutschland nicht komplett auszuschließen sei. Große Angst gibt es vor möglichen Einzeltätern, die zuvor überhaupt nicht aufgefallen sind.
In Frankreich gilt seit dem Pariser Anschlag die höchste Terrorwarnstufe. Soldaten sind vor Schulen und auf öffentlichen Plätzen postiert. Die belgischen Behörden riefen nach dem tödlichen Anti-Terror-Einsatz die zweithöchste Alarmstufe aus. Polizeiwachen wurden verbarrikadiert, jüdische Schulen vorerst geschlossen. Solche Warnstufen hat Deutschland nicht. Bislang gibt es hier auch nur wenige sichtbare Sicherheitsvorkehrungen wie ein wenig mehr Polizei an einigen Stellen, zum Beispiel rund um bestimmte Medienhäuser. Auf eine deutliche Verstärkung der Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit verzichten Bund und Länder bislang. Hinter den Kulissen sind Polizei und Geheimdienste aber verstärkt im Einsatz: „Die deutschen Sicherheitsbehörden unternehmen alles, um die Bevölkerung wirksam zu schützen“, betont de Maizière. Aber es sei doch auch klar, dass man nicht jede Maßnahme sehe oder offen darüber spreche.
Die Regierung findet ein starres und grobes Raster nicht geeignet, um die Sicherheitslage vernünftig zu beschreiben. Schließlich könne sich die Situation je nach Region unterschiedlich gestalten, sogar innerhalb einer Stadt, lautet die Argumentation des Innenressorts. Der Vielschichtigkeit von Bedrohungen werde das nicht gerecht.
Was kritisieren Sie am IS am meisten?
Seine religiöse "Säuberungsstrategie". Der IS glaubt, er habe die Pflicht und das Recht, alle nicht-abrahamitischen Religionen auszulöschen. Das heißt, Hunderte von Millionen Andersgläubiger zu ermorden. Die absolute Überzeugung, eine religiöse Pflicht zu tun, lässt dabei alle Skrupel schwinden. Als Deutscher darf man dazu nicht schweigen.
Wie sehen Sie das Verhältnis des IS zum Islam?
Der IS hat sich eine gnadenlose Privatreligion zurechtgestrickt. Mit Islam hat die nichts zu tun. Wenn der IS Islam ist, dann ist der Ku-Klux-Klan das Christentum. Der IS hat mit dem Islam so viel gemeinsam wie Vergewaltigung mit Liebe.
Aus meiner Sicht ist der sogenannte Kalif des IS vielmehr der "Anti-Christ" des Islam, auch wenn es diese religiöse Figur im Islam überhaupt nicht gibt. Und der sogenannte Islamische Staat ist im Grund ein anti-islamischer Staat. Er müsste eigentlich AIS heißen.