Ja, diese zwei Worte, sie hängen Ostdeutschland um den Hals und den meisten Ostdeutschen zugleich zum Hals hinaus: blühende Landschaften. Helmut Kohls Versprechen an die neuen Landsleute, ausgesprochen direkt nach der Währungsreform 1990. Aber sie hängen eben an ihm. Deshalb so ein Ort wie der Botanische Garten Dresden für das Gespräch, in dem es um die deutsche Einheit geht: viel Grün, wenig Blüten. Wie überall im Osten? Den Versuch der Deutung wagen die Unternehmerin Katja Hillenbrand, jüngst zur „Sächsischen Unternehmerin des Jahres“ gewählt, die als Westdeutsche im Erzgebirge ein Unternehmen für Sensortechnik aufgebaut hat. Außerdem der Ökonom Joachim Ragnitz vom Dresdner ifo Institut, noch ein Wessi und trotzdem einer der besten Kenner der ostdeutschen Wirtschaft, sowie Martin Dulig, sächsischer Wirtschaftsminister (SPD), und der Schriftsteller Ingo Schulze. Letzterer hat ein Heimspiel: Er wurde in Dresden geboren.
WirtschaftsWoche: Frau Hillenbrand, werte Herren, haben Sie 1990 an Kohls „blühende Landschaften“ geglaubt? Oder waren Ihnen allen die Worte des damaligen Bundeskanzlers völlig egal?
Katja Hillenbrand: Weder noch, ehrlich gesagt. Als die Mauer fiel, war ich Abiturientin in Baden-Württemberg. Vom Osten hatte ich eher keine konkrete Vorstellung, irgendwelche Hoffnungen waren unmittelbar mit der Wende nicht verbunden. Aber die Neugierde war geweckt.
Zu den Personen
Katja Hillenbrand kam aus dem schwäbischen Albstadt ins sächsische Oelsnitz. 2000 baute sie dort ihr Unternehmen Micas auf, eine Erfolgsgeschichte.
Mit dem Roman „Simple Storys“ (1998) wurde Ingo Schulze zu der Stimme der Wende. Die Einheit ist bis heute ein wichtiges Thema seines Werks.
Martin Dulig ist als Wirtschaftsminister zuständig für den Aufschwung Sachsens. Der Vater von sechs Kindern gilt als Hoffnungsträger der SPD.
Joachim Ragnitz kommt aus Niedersachsen, aber kaum jemand befühlt so intensiv den wirtschaftlichen Puls der neuen Länder wie er. Und das seit 1994.
Martin Dulig: Das war bei mir völlig anders. Als die Mauer fiel, stürzte mein altes Leben gleich mit um. Auf einmal war Freiheit, wo vorher nur eine vorgezeichnete, enge Lebensspur war. Da ich aus einem kirchlich gebundenen Elternhaus kam, war in der DDR für mich eine akademische Ausbildung unmöglich. Ich sollte Steinmetz werden. Noch im Sommer 1989 gab es für mich keinerlei Veranlassung, das infrage zu stellen. Das Gefühl der Freiheit wurde jedoch nach dem Mauerfall bei vielen durch negative persönliche Erfahrungen gedämpft.
Ingo Schulze: So erinnere ich mich auch. Der monatelange Jubel, zu dem der Beitritt heute verklärt wird, war in Wahrheit ziemlich schnell ausgenüchtert. Das war für mich besonders schwierig, ich war in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Und ich hatte bewusst keinen Ausreiseantrag gestellt, weil ich immer dachte: Ein paar müssen noch da sein, wenn die Stunde X kommt. Und als der Moment dann da war, dachten meine Freunde und ich wirklich für einen Moment, nun könnten sich all unsere Utopien verwirklichen. Ich arbeitete am Theater, da fühlten wir uns geradezu als Motor dieses utopischen Momentums. Aber uns ging es um Demokratie, um Selbstbestimmung, das würde auch eine erblühende Wirtschaft bewirken. Wir wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Schließen wir daraus richtig, dass wirtschaftliche Hoffnungen bei Ihnen gar keine große Rolle gespielt haben?
Dulig: Für mich tatsächlich weniger, ich war ja 15! Für mich stand auf einmal die Welt offen. Aber bei vielen Menschen war das anders. Das hat man auch auf den Demonstrationen gesehen. Schon Ende 1989 ging es nicht mehr um Bürgerrechte, zumindest nicht nur. „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr“, wurde skandiert. Die Vereinigung stand plötzlich ganz oben auf der Liste der Forderungen. Das hat aus den Protesten eine Massenbewegung gemacht.
Joachim Ragnitz: Da stimme ich Ihnen zu. Das Verlangen nach Grundrechten bildete den Anfang der Bewegung, aber die breiten Massen wollten vor allem den westdeutschen Wohlstand, Konsum, Westwaren. Das trieb sie an.
Schulze: Wir waren ziemlich unvorbereitet, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es ging um grundlegende Rechte. Über das Recht auf Arbeit sprach niemand, das war für uns selbstverständlich.
"Eine Stunde Null gab es doch gar nicht"
Wie sehen Sie das mit Abstand, 25 Jahre später? Haben die Deutschen die Stunde null genutzt?
Dulig: Eine „Stunde null“ gab es doch gar nicht, und genau darin sehe ich heute eines der Hauptprobleme, welches die Entwicklung Ostdeutschlands gehemmt hat. Die DDR trat der BRD bei und löste sich dann quasi rückstandslos auf. Für die Menschen im Osten änderte sich von heut auf morgen alles, für den Westen hingehen änderte sich fast nichts ...
Hillenbrand: ... deshalb hat viele junge Westdeutsche die Einheit auch so wenig interessiert, sie ging uns irgendwie nichts an. Sie blieb erst mal im fernen Westen gefühlt so folgenlos.
Dulig: Die Chance, aus der Kraft der Einheit ein neues Land und eine gemeinsame Verfassung zu entwickeln, wurde so verpasst. Das aber hätte viele der Minderwertigkeitskomplexe verhindert, die Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland bis heute mit sich herumschleppen. Auch ein Vierteljahrhundert später muss man sich, wenn man über Fehler und Unterschiede redet, immer eines klarmachen: Man hätte die Einheit auch anders gestalten können.
Schulze: So, wie es gelaufen ist, entsprach es eben den Vorstellungen der bundesdeutschen Regierung. Ich darf daran erinnern, das der Spruch „Wir sind ein Volk“ erstmals auf einem Aufkleber der CDU bei einer Leipziger Demonstration auftauchte. Helmut Kohl hat den Ostlern den Weihnachtsmann aus dem Westen gegeben – und die haben gerne daran geglaubt. Die D-Mark wurde der DDR auf Regierungsebene angeboten, bevor sie auf der Straße gefordert wurde. Dabei musste doch jedem, der einen halbwegs verständigen Blick auf das Thema hatte, klar sein, dass die Währungsunion niemals funktionieren konnte.
So verschieden sind Ost und West
„Blühende Landschaften“ gibt es im Osten eher wenige. Die Wirtschaftskraft liegt ein Drittel unter dem Niveau der westdeutschen Länder. Und: Die Lücke schließt sich seit einiger Zeit kaum noch. (Quelle: dpa)
Ostdeutsche verdienen viel weniger. So betrug der mittlere Bruttomonatslohn im Westen zuletzt 3094 Euro, im Osten nur 2317 Euro.
Die Kluft zwischen Ost und West wird immer kleiner. In Ostdeutschland ist die Arbeitslosenquote auf dem tiefsten Stand seit 1991. Trotzdem beträgt sie noch 9,1 Prozent, im Westen 5,8 Prozent.
Wegen des früheren Berufseinstiegs in der DDR sind Renten im Osten meist höher. Zuletzt bekamen Männer im Schnitt 1096 Euro, Frauen 755 Euro. Im Westen: Männer 1003 Euro, Frauen 512 Euro.
Ostdeutsche besitzen nicht einmal halb so viel. Während Erwachsene im Westen im Schnitt über 94 000 Euro verfügen, sind es im Osten nur 41 000 Euro. Der Durchschnittswert selbst genutzter Immobilien liegt im Westen bei 151 000, im Osten bei 88 000 Euro.
In Westdeutschland ist der Kinderwunsch deutlich ausgeprägter. Nach einer Forsa-Umfrage möchten 63 Prozent der jungen Erwachsenen hier auf jeden Fall Kinder, im Osten nur 47 Prozent.
In der DDR gehörte die Krippe zum Alltag, das wirkt bis heute nach. 2013 war die Betreuungsquote im Osten mit 49,8 Prozent noch mehr als doppelt so hoch wie in den westdeutschen Ländern mit 24,2 Prozent.
Ostdeutsche Straßen sind gefährlicher - und besonders gefährlich sind die in Brandenburg. Bei Verkehrsunfällen starben 2013 dort 69 Menschen pro eine Million Einwohner, in Sachsen-Anhalt 61. Im Bundesdurchschnitt waren es gerade mal 41.
Ob Helene Fischer oder Tim Bendzko: Musik mit deutschem Text ist im ganzen Land beliebt, nach einer Umfrage im Osten (84 Prozent) aber noch deutlich stärker als im Westen (74 Prozent).
Rund 82 Prozent der Ostdeutschen wünschen sich einer Forsa-Umfrage zufolge bei einer schweren Erkrankung Sterbehilfe. In Westdeutschland sind es nur 67 Prozent.
Sie können sich im Osten wegen niedrigerer Mieten mehr leisten. Laut Umfrage zahlt jeder zweite weniger als 300 Euro Miete, im Westen nur jeder dritte. Für Ausgehen oder Hobbys geben Studenten im Osten im Schnitt 178 Euro aus, 16 Euro mehr als die Kommilitonen im Westen.
Die historisch gewachsene Kluft bleibt groß: 2011 waren noch 25 Prozent der Menschen im Osten Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche, im Westen 70 Prozent.
Nach einer Umfrage von Infratest dimap bewerten etwa 75 Prozent der Ostdeutschen die Wiedervereinigung positiv. In Westdeutschland sieht dagegen nur rund die Hälfte der Befragten (48 Prozent) mehr Vor- als Nachteile.
Hillenbrand: Na ja, Sie dürfen umgekehrt aber auch nicht vernachlässigen, wie wenig wir Westdeutschen über Ostdeutschland wussten. Das war für viele, sicherlich auch unter den Politikern, letztlich eine sozialistische Blackbox. Wer wusste denn, wie marode hier vieles war? Als ich das erste Mal nach Oelsnitz kam, wo ich noch heute wohne und arbeite, war ich erschrocken. Wie die Straßen manchmal aussahen! Viele Wohnungen hatten die Toilette auf dem Hof. Wie bei Michel aus Lönneberga kam mir das alles vor – und ich rede immerhin schon von 1996.
Ragnitz: Gut, dass Sie das sagen. Es ist wichtig, sich immer wieder diese Bilder in Erinnerung zu rufen, wenn man eine Bilanz der Einheit ziehen will. Denn dann sieht man auch, wie viel seitdem erreicht wurde.
Reden wir also zum Jubiläum, im Großen und Ganzen, von einem Erfolg?
Dulig: Wir können nicht über Erfolg oder Misserfolg der Einheit sprechen, ohne die Treuhand zu erwähnen. Das Ziel der Treuhand war, die Ostwirtschaft möglichst schnell abzuwickeln. Das nannte sich zwar oft Joint Venture, aber das waren meist keine Partnerschaften auf Augenhöhe. Und auch der Einigungsvertrag war kein langfristig ausgeklügelter Masterplan, sondern eher ein schnell gefertigter Ehevertrag.
Ragnitz: Bis vor Kurzem habe ich ähnlich argumentiert. Inzwischen sehe ich das anders. Denn zumindest politisch war es klug, es so zu machen, wie es gemacht wurde. Mit der Treuhand schuf man den perfekten Sündenbock, den man später für alle Fehler im Osten verantwortlich machen konnte. Sehr bequem.
Schulze: Bequem vielleicht, aber trotzdem dumm. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte auf 27 Prozent, das war stärker als in jedem anderen Land im Osten, selbst mehr als in jenen, die einen Bürgerkrieg erlebt hatten. Es wurde einfach alles privatisiert, alles. Das verträgt keine Wirtschaft, wenn man sie von einem Tag auf den anderen auf den Markt wirft. Die Treuhand musste scheitern unter diesen Vorgaben.
Hillenbrand: Dieses Lamento, meine Herren, ist mir ein bisschen zu einseitig. Man hat doch meistens das Gute aus dem Westen übertragen.
Ragnitz: An was denken Sie? An die Verwaltung?
Hillenbrand: Ja, zum Beispiel.
Ragnitz: Sie haben insofern recht, als dass das im Westen erfolgreiche Systeme waren. Aber für eine Wirtschaft im Totalumbruch wie die ostdeutsche Anfang der Neunzigerjahre war die Westbürokratie viel zu hochgezüchtet. Da hätte es viel einfachere Strukturen gebraucht.
Osten ist nicht gleich Osten
Haben die westdeutschen Eliten dann bei der Aufgabe versagt, die ostdeutsche Wirtschaft aufzubauen?
Dulig: Meine Bilanz des Aufbaus nach der Wende fällt jedenfalls zweigeteilt aus. Insgesamt war das erfolgreich. Der Aufschwung hat aber zu viele Verlierer hinterlassen. Etwas, was die Menschen gelernt hatten, was in der DDR auch geschätzt wurde, war plötzlich nichts mehr wert. Stattdessen schickte man sie von Umschulung zu Umschulung und verstärkte nur das Gefühl: So, wie du bist, taugst du nichts mehr. Daraus speist sich meiner Ansicht nach bis heute ein Großteil des Frustes, der Leute in die Arme von Pegida treibt. Menschen, die diesen Verlust ihrer Aufgabe nie kompensieren konnten, das Gefühl haben, ihr Leben sei nichts wert gewesen, die haben jetzt Angst, noch den letzten Teil ihrer Identität zu verlieren: ihre Heimat.
Schulze: Wir dürfen auch keinesfalls die innerdeutsche Völkerwanderung unterschätzen. Aus der Erfahrung, überflüssig zu sein, die Sie, Herr Dulig, sehr richtig beschreiben, entstand vielfach Fatalismus und Perspektivlosigkeit. Andere sahen ihre Chance und gingen weg. Wenn ich heute zurückkomme in meine Heimatstadt Dresden, bin ich immer überrascht, wie viele Alte ich hier sehe. Ganz zu schweigen von der ostdeutschen Provinz.
Ragnitz: Über anderthalb Millionen Menschen haben Ostdeutschland nach der Wende verlassen. Das sieht man eben.
Schulze: Und das waren nicht die Schlechtesten!
Ragnitz: Im Gegenteil: Es waren die Besten.
Muss man angesichts dieser Voraussetzungen nicht doch sagen: Der Osten ist recht weit gekommen?
Dulig: Verglichen mit 1990, ist die wirtschaftliche Entwicklung des Ostens ein voller Erfolg. Natürlich. Man muss ja sehen, dass es damals kaum noch wirtschaftliche Fundamente gab. In Sachsen hatten wir noch ein bisschen industrielle Basis. Wenn ich heute, nach 25 Jahren, auf die Wirtschaft in Ostdeutschland schaue, sage ich: Das hat sich wirklich gut entwickelt. Aber bezahlt haben wir dies mit höherer Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und niedrigen Löhnen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Ragnitz: Der Blick auf die ostdeutsche Wirtschaft ist ein wenig schizophren. Jahrelang hagelte es fast immer nur negative Schlagzeilen. Seit einigen Jahren überwiegen plötzlich Jubelmeldungen. Es gibt unbestreitbar einen Aufschwung Ost, aber dieser Boom ist begrenzt und findet in Städten wie eben hier in Dresden statt, auch in Leipzig oder Jena. Aber für einen, der im Erzgebirge seine Scholle bewirtschaftet und davon lebt, muss das doch wie Hohn wirken. Für den hat sich rein gar nichts geändert. Und dass die Arbeitslosigkeit sinkt, liegt doch zu einem erheblichen Teil daran, dass die Leute abwandern oder älter werden und so aus der Statistik verschwinden.
Hat Ostdeutschland sich zu lange hinter den unverschuldeten Unzulänglichkeiten versteckt? Müssten die Politiker heute nicht endlich sagen: Transfers waren gestern, wir schaffen das jetzt alleine?
Dulig: Klingt schön, ist aber illusorisch. Wir werden weiterhin von Transfers abhängig sein, das ist leider ein Fakt, dafür muss ich nur in den Landeshaushalt schauen. Von unseren Einnahmen sind nur rund 60 Prozent eigene Steuereinnahmen.
Hillenbrand: Da wünschte ich mir Selbstbewusstsein, Herr Dulig! Wir in Sachsen könnten wirklich mehr Stolz und Vertrauen brauchen und uns künftig auf unsere eigenen Unternehmen und deren Mitarbeiter verlassen. Wir können es nämlich selbst reißen. Bei allem nötigen Realismus: Wir haben hier eine Menge aufgebaut, auf das wir stolz sein können. Etwas, das Kräfte weckt, weil wir auf uns selbst schauen können – anstatt uns immer nur zu rechtfertigen, warum es nicht ohne andere geht.
Ragnitz: Man darf da nicht den Fehler machen, den Osten über einen Kamm zu scheren. Manche Regionen können locker auf eigenen Beinen stehen, andere werden es auch in 30 Jahren nicht schaffen. Aber das zieht sich quer durch die Bundesländer. Im Norden Sachsens ist genauso wenig Dynamik wie im Süden Brandenburgs. Und im Westen sieht es, ganz nebenbei bemerkt, hier und da auch zappenduster aus.
Dulig: Wir sollten sehr vorsichtig damit sein, im Osten zu sehr auf dicke Hose zu machen. Auch wenn es aufwärtsgeht, reine Euphorie glauben uns die Leute nicht.
Schulze: Allerdings nicht! Ich habe das in der Kleinstadt Altenburg erlebt, fast jeder Ostdeutsche kennt das auch: Politiker, die einem erzählen, morgen oder übermorgen entstehe hier eine riesige Ansiedlung. Und dann passiert: nichts. Optimismus ist gut, aber es muss eine Grundlage dafür geben.
Im Osten herrscht Stillstand
Eine Zeit lang hat die Wirtschaft im Osten stetig schneller zugenommen als im Westen. Seit einigen Jahren aber ist damit Schluss, der Osten holt nicht mehr auf, trotz aller Geldinjektionen. Müssen wir uns mit diesen Unterschieden endgültig abfinden?
Ragnitz: Sie können das Fragezeichen weglassen: Berlin hat sich damit abgefunden, dass große Teile Ostdeutschlands auf lange Sicht strukturschwach bleiben werden. Ebenso wie der Hunsrück oder der Bayerische Wald, nur eben auf noch bescheidenerem Niveau. Es gibt nun mal keine Dax-Konzerne im Osten, und erschaffen kann man sie mit dem politischen Zauberstab auch nicht. Wirtschaftspolitik kann solche Entwicklungen in Maßen forcieren, auch die demografische Entwicklung können wir versuchen zu beeinflussen. Aber die ganze Richtung verändern, das kann Politik nicht. Deshalb: Der Osten hat 25 Jahre Welpenschutz genossen, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, selbstständig zu werden.
Hillenbrand: Es ist ja auch nicht so, dass sich die Wirtschaft aus dem Westen hier nicht engagiert hätte. Aus Baden-Württemberg heraus hat es beispielsweise viele Ansiedlungen im Osten gegeben. Da ist im Stillen sehr viel passiert.
Woran mangelt es ganz konkret? Warum kann der Osten diese Dynamik selbst noch nicht entfachen?
Ragnitz: Das mag vage klingen, aber ich glaube tatsächlich, dass viele ostdeutsche Unternehmer ein Coaching bräuchten, das ihnen den Willen vermittelt, zu wachsen. Man hat sich hier jahrelang auf Förderperioden und Insolvenzvermeidung konzentriert, da ist vielen der Gedanke an Wachstum und Risiko verloren gegangen.
Schulze: Interessant, dass Sie das überhaupt als Problem betrachten. Warum stellen wir eigentlich nicht andere Fragen: Wollen wir überhaupt wachsen? Und wenn ja, wie? Der Osten muss nicht jeden Westfetisch übernehmen.
Dulig: Die Beobachtung stimmt aber zweifellos, Herr Ragnitz hat da einen Punkt. Ich beobachte immer wieder, dass Unternehmer, die ein tolles Produkt haben, sagen: Mir geht es doch gut in meiner Nische, warum soll ich denn immer größer werden? Diese Mentalität ist hier tatsächlich weiter verbreitet als im Westen. Vielleicht steckt darin die Angst, etwas zu verlieren, was man sich gerade erst aufgebaut hat.
Hillenbrand: Ich merke das ja an mir selbst, obwohl ich aus dem Westen bin. Wir sind in wenigen Jahren sehr schnell gewachsen, von drei Mitarbeitern auf fast 80. Und je größer sie werden, desto mehr müssen sie sich mit Dingen beschäftigen, die gar nichts mit ihrem Produkt zu tun haben. Besteuerung, Zulassungen und so weiter, sie entfremden sich von ihren Ursprüngen, wenn sie nicht gegensteuern. Ich habe dafür also ein gewisses Verständnis. Immerhin ist hier in Sachsen die Hochachtung für kleine, bewegliche, kreative Unternehmen wiederum sehr groß. 80, 100, 150 Mitarbeiter, das empfinde ich heute selbst als ein menschliches Maß.
Wie fallen Ihre persönlichen Erwartungen an die kommenden 25 Jahre vereinigtes Deutschland aus?
Ragnitz: Wir werden dann nicht mehr von „Ostdeutschland“ sprechen, als sei es ein Reservat. Und zwar, weil sich die Regionen hier weiter auseinander entwickeln werden. Die Wachstumszentren werden wohlhabender und attraktiver und noch mehr als heute mit den Städten im Westen mithalten können. Dresden zum Beispiel wird es dann ziemlich sicher mit Karlsruhe aufnehmen können.
Dulig: Auch ich bin optimistisch. Mit der jetzt heranwachsenden und den kommenden Generationen werden die Unterschiede immer mehr verschwimmen, auch wirtschaftlich – das sehe ich genauso. Wir werden weiterhin Brüche haben, aber die werden weniger mit Ost und West zu tun haben, sondern vielmehr mit Stadt und Land. Außerdem glaube ich, dass wir die jetzt anstehende große Herausforderung mit der Integration von Flüchtlingen als Chance nutzen werden, um unser Land besser zu machen. Genau das ist eine große Chance für den Osten.
Ragnitz: Die Glücksforschung zeigt uns ja heute schon, dass die Lebenszufriedenheit nicht zwingend mit dem Einkommen zusammenhängt. Da schneiden auch Gegenden gut ab, in denen es wirtschaftlich wenig Positives gibt. Das ist das eine. Und das andere: In dem Moment, in dem diese große, historische Erzählung der deutschen Wiedervereinigung verblasst, werden auch weiter bestehende Unterschiede weniger darauf bezogen. Das wird helfen.
Hillenbrand: Wie wäre es damit: Hoffen wir doch einfach alle gemeinsam, dass wir ein solches Gespräch über Unterschiede zwischen Ost und West in 25 Jahren gar nicht mehr führen müssen.