Deutschland erlebt ein Maß an politischer Polarisierung bis zum offenen Hass, das man seit der Studentenrevolte vor fast 50 Jahren nicht mehr kannte. Es tun sich Gräben auf, die Freundschaften und gar Familien entzweien. Spätestens seit dem Sommer 2015 erregt dabei vor allem diese Gretchen-Frage die Gemüter: Wie hältst du es mit der Einwanderung?
Mit breiter Rückendeckung fast der gesamten politischen und wirtschaftlichen Eliten legte Kanzlerin Angela Merkel fest, dass Deutschland die Entscheidungshoheit über die Auswahl der Einwanderer abtritt. De facto an die Einwanderer selbst, beziehungsweise deren Schleuser, und andere Staaten, in erster Linie die Türkei.
Gegen diese Politik des Willkommens hat sich innerhalb des etablierten Parteienspektrums bislang kaum effektiver Widerstand formiert. Doch der Burgfrieden innerhalb des Bundestages verschärfte vermutlich die Dynamik und Radikalität der außerparlamentarischen Opposition, die sich vor allem in Wahlerfolgen der AfD und einer wütenden Alternativöffentlichkeit im Internet manifestiert.
Die einwanderungspolitischen Entscheidungen der Merkel-Regierung sind aber allenfalls nur der akute Auslöser. Die Moralisierung, mit der beide Seiten den Konflikt aufheizen - „Volksverräter“ gegen „Pack“ -, erschwert nicht nur seine Entschärfung, sondern vernebelt auch den Blick auf seine sozialen und ökonomischen Wurzeln.
Wirtschaftswachstum als Allheilmittel
Die Einwanderung ist nicht die Ursache des Konflikts, sondern das Feld, auf dem die Interessen eines bereits seit Jahrzehnten angelegten sozialen Gegensatzes besonders hart aufeinander treffen. Hervorgerufen wurde dieser Gegensatz durch die Verwerfungen, die das Ende des Zeitalters des Wirtschaftswachstums, beziehungsweise dessen Aufschub, mit sich bringt.
Die schwelende Wunde der westlichen Gesellschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert, nämlich die soziale Frage, schien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geheilt oder zumindest heilbar. Wirtschaftswachstum war das Allheilmittel. Einige Jahrzehnte sorgte es für sozialen Frieden, weil alle Schichten davon profitierten.
Doch das Wirtschaftswachstum der jüngeren Zeit wirkt nicht mehr befriedend. Es verschärft stattdessen die Gegensätze, weil ein großer Teil der Gesellschaft nicht mehr profitiert.
Blicken wir zurück: Die weltgeschichtlich einmalige Phase stürmischer ökonomischer Entwicklung in Deutschland und der gesamten westlichen Hemisphäre erreichte in den Siebzigerjahren ihr Ende. Nicht nur die Autoren der Club-of-Rome-Studie „Die Grenzen des Wachstums“ haben das damals so gesehen. Auch einige Politiker wie der heute vergessene EG-Kommissionspräsident Sicco Mansholt oder der SPD-Vorsitzende Jochen Vogel forderten damals, dass sich die entwickelten Volkswirtschaften auf das Ende der wirtschaftlichen Expansion einrichten sollten.
Doch es kam bekanntlich anders. Unter der Führung der neuen Leitwissenschaft der Ökonomie setzte sich in Politik und Medien ein Paradigma von der unbedingten Notwendigkeit fortgesetzten Wirtschaftswachstums durch. Eine parteienübergreifende Allianz von Franz Josef Strauß bis Helmut Schmidt erklärte Wachstum zur Voraussetzung der Fortexistenz der Demokratie.
Wachstum, von dem nicht alle profitieren
Auf dem G7-Gipfel von Bonn 1978 legte sich auch die westliche Staatengemeinschaft eindeutig auf das politische Ziel der weiteren Wachstumsförderung fest. Das Mittel der Wahl: Schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik. Aus dieser Epoche rührt das informelle Bündnis von Staaten und Finanzinstitutionen, das den bis heute fortgesetzten Marsch in das System des wachstumsfördernden Schuldenstaates erst ermöglichte.
Das Ende des Wachstums, das einst die großen Ökonomen von Keynes bis zu den Ordoliberalen noch für unvermeidlich gehalten hatten, sollte aufgehoben werden. Aus den „Grenzen des Wachstums“ würde also, so las man in den späten Siebzigerjahren in den Zeitungen, das „Wachstum der Grenzen“.
Doch für immer kleinere Wachstumseffekte musste mit immer mehr Schulden nachgeheizt werden. Und das Wachstum, das die entwickelten Volkswirtschaften seither erzielten, steigerte nicht oder kaum mehr den allgemeinen Wohlstand. Denn das Wachstum ging auf Kosten der Löhne, die – relativ – gekürzt wurden, um Gewinne zu erwirtschaften und die Zinsen und Dividenden der Kapitaleigner zu zahlen.
Zuvor, im goldenen Zeitalter des Wirtschaftswunders, saßen alle in einem Boot. Im Zeitalter des staatsschuldenfinanzierten Wachstums sind die einen mit neuem Schwung weitergezogen, während die anderen – vermutlich die Mehrheit – seither mehr oder weniger auf der Stelle strampeln. Das ist zumindest das Empfinden weiter Teile der Gesellschaft.
Willkommenskultur hofft auf Win-Win-Situation
Eine Bedingung für die Fortsetzung des Wachstumskurses war und ist die Mobilisierung neuer Arbeitskraft. Dafür gab es im Wesentlichen zwei anzapfbare Quellen: Eine innere, nämlich die in den Wirtschaftswunderjahrzehnten meist noch nicht berufstätigen Frauen, und eine äußere: die Einwanderung.
Was die Menschen vom Kapitalismus halten
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 16 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 75 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 8 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 6 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 47 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 43 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 59 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 5 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 56 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 29 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 13 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 57 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 19 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 25 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 53 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 13 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 11 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 58 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 18 Prozent
Kapitalismus funktioniert gut und würde durch Regulation nur geschwächt: 12 Prozent
Kapitalismus hat Probleme, die mit mehr Regulation behoben werden könnten: 44 Prozent
Kapitalismus ist am Ende, ein neues Wirtschaftssystem muss her: 23 Prozent
Die ökonomische Großwetterlage der entwickelten Welt, gekennzeichnet durch zunehmend verzweifelte Versuche, das Wachstum neu zu beleben, ist nicht nur ein Begleitumstand der Masseneinwanderung, sondern auch eine der Ursachen. Wohlgemerkt: nur eine von vielen. Die Wanderungsbewegungen werden von Push- und Pull-Faktoren beeinflusst. Für erstere sorgen vor allem die Zustände in den Herkunftsländern: Überbevölkerung, fehlende wirtschaftliche Entwicklung, Versagen oder gar völliger Zerfall der Staatlichkeit. Aber auch die Anziehungskräfte der Zuwanderungsländer spielen eine große Rolle.
Die „Willkommenskultur“, an der sich der gesellschaftliche Konflikt hierzulande entzündet, ist eine Mischung aus moralischen und ökonomischen Argumenten für die Öffnung. Darin äußert sich die Hoffnung vieler, meist wohlhabender und gut ausgebildeter Menschen auf eine große Win-Win-Situation: Anderen Gutes tun und dadurch im Endeffekt auch noch reicher werden. Wir helfen jetzt den Flüchtlingen und dann ermöglichen sie durch ihren Wohlstandshunger und Fleiß neue unternehmerische Möglichkeiten, also Wachstum!
Das Problem dabei ist: Das von den politischen und medialen Eliten oft genannte Argument, dass "Deutschland" von der Einwanderung profitiere, weil sie weiteres Wachstum schaffe, kann nur Menschen überzeugen, die selbst zu den Profiteuren dieses Wachstums gehören. Das ist eben nur ein Teil von Deutschland. Wer ohnehin auf der Stelle strampelt oder sich zumindest so fühlt, kann sich schwerlich dafür begeistern, dass nun noch andere neben ihm oder gar an seiner statt strampeln.
Dieses Empfinden des Austauschbarseins, das weite Teile der einheimischen (oder früher schon eingewanderten) Nicht-Eliten angesichts der ökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre erfasst hat, ist eine Quelle für Frust und daraus entstehenden Zorn. Er richtet sich vermutlich bei der Mehrheit der Wütenden stärker gegen die einwanderungsfreundlichen Eliten als gegen die Einwanderer selbst.
Versagen der politischen Eliten
Diesen Zorn wird auch die Moralisierung des Einwanderungsdiskurses auf Dauer nicht besänftigen können. Denn sie kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass nur ein Teil der Einheimischen von weiterer Einwanderung positive Wirkungen erhoffen kann. Nämlich diejenigen, die von weiterem Wachstum profitieren. Wer nicht profitiert, hat auch von weiterer Zuwanderung eher ökonomische Nachteile zu erwarten. Kein Arbeitnehmer hat ein Interesse daran, dass das Angebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt steigt. Der Arbeitgeber aber sehr wohl.
Die Zuspitzung der politischen Gegensätze im gesamten Westen kann man also als Reaktion auf eine existentielle Krise des wirtschaftspolitischen Modells der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen. Manche Beobachter, wie etwa der Soziologe Wolfgang Streeck, sprechen gar vom bevorstehenden Ende des Kapitalismus.
Das kann man für einen Unkenruf halten. Einige langfristige Trends in den hochentwickelten, kapitalistischen Ländern sind aber kaum zu leugnen. Vor allem: der anhaltende Rückgang der Wachstumsraten, verschärft seit 2008. Verbunden damit ist die extreme Zunahme der Verschuldung, sowohl der Staaten als auch der Privathaushalte und Unternehmen. Verbunden damit ist aber vor allem auch die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in diesen Gesellschaften.
Die Linken haben versagt
Für zusätzlichen Zunder im sich ohnehin aufheizenden sozialen Konfliktherd sorgt das Versagen der Linken, die Interessen der zu kurz gekommenen Einheimischen glaubwürdig zu vertreten. Diese Leute, die früher links wählten, laufen heute in fast allen westlichen Ländern als Protestwähler zu den Rechtspopulisten, weil ihnen der fortgesetzte Internationalismus und die Einwanderungsbegeisterung der Linken suspekt sind.
Die Unfähigkeit der politischen Eliten, den durch die fortgesetzte Einwanderung verunsicherten Bürgern mehr als moralische Imperative anzubieten, macht wenig Hoffnung darauf, dass sich die Radikalisierung der Gegensätze in absehbarer Zeit entschärfen könnte. Der Unwille, die entscheidenden Fragen der Gegenwart – nicht zuletzt auch die nach den Grenzen des Wirtschaftswachstums – auch nur offen zu stellen, geschweige denn zukunftsorientierte Lösungen zu suchen, befeuert die Verunsicherung noch.
Die Nutznießer dieses Elitenversagens sind die neuen Bewegungen und Parteien, die den Verunsicherten ein Ventil für ihren Frust bieten. Doch dass diese das Bedürfnis nach neuer Sicherheit befriedigen können, ist mehr als fraglich. Eher im Gegenteil. Ihr Erfolgsmodell ist der Protest, das Anheizen der Stimmung, nicht die Schaffung von Stabilität. Und die Frage nach den Grenzen des Wachstums stellen sie überhaupt nicht.
Bis auf weiteres muss man eher mit zunehmender Unordnung und Unsicherheit als mit der baldigen Rückkehr der sozialen Harmonie des goldenen Wachstumszeitalters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechnen.