Europäischer Gerichtshof Wie die Richter den Europäern das Leben schwermachen

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EuGH kann EU-Recht kaum korrigieren

Das Problem ist, auch abgesehen von dem Subsidiaritätsprinzip, ein grundsätzliches. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm legt es in seinem Buch „Europa ja – aber welches?“ (2016) dar: In einem Nationalstaat kann das Parlament, wenn es mit Gerichtsurteilen unzufrieden ist, die zugrundeliegenden Gesetze ändern. Nur bei Verfassungsrecht ist diese Möglichkeit eingeschränkt. Das europäische Recht und der EuGH als dessen Wächter sind aber im Gegensatz zu nationalem Recht und nationalen Gerichten so gut wie nicht politisch korrigierbar. Denn der gesamte, viele Tausend Seiten umfassende Rechtsbestand der Europäischen Union, inklusive aller Richtlinien, hat durch frühe Entscheidungen des EuGH de facto Verfassungsrang gewonnen – und ist damit dem Einfluss der Politik weitestgehend entzogen.

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von Thomas Schmelzer

Formal könnte ein Urteil des EuGH unwirksam gemacht werden, wenn die europäischen Verträge entsprechend geändert werden. Aber das setzt bei Vertragsverletzungsverfahren Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten voraus. Da aber die Urteile auf unterschiedliche Verhältnisse und Interessen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten treffen, ist diese notwendige Einigkeit höchst unwahrscheinlich. Dazu kommen noch die langwierigen Ratifizierungsprozeduren in den nationalen Parlamenten oder gar Volksabstimmungen. Die demokratisch nicht legitimierten EU-Organe Kommission und EuGH sind also bei der Anwendung und Auslegung des EU-Rechts kaum zu korrigieren.

Der EuGH hat im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht gar nicht den Anspruch, nur neutraler „Hüter der Verträge“ zu sein. Er wird in der juristischen Fachliteratur meist als „Motor der Integration“ angesehen – und dem widerspricht man in Luxemburg auch nicht. Es entspricht dem Selbstbild des Gerichts, das seit seiner Gründung 1952 viele Grundsätze des Gemeinschaftsrechts durch Urteile selbst geschaffen hat: zum Beispiel den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht, den Grundsatz der Haftung des Mitgliedsstaats bei Nichtumsetzung von EU-Richtlinien (wie im Falle des Hamburger Kraftwerks) und die Deutung der Grundfreiheiten.

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„Mit seiner Rechtsprechung verändert der EuGH Richtung und Geschwindigkeit der europäischen Integration“, schreibt der Soziologe Martin Höpner. Die Richter in Luxemburg betrieben „faktisch Integrationspolitik“. Höpner sieht das sehr kritisch. Er sorgt sich vor allem um die Aushebelung sozialer Rechte in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten, wie sie etwa im Falle der Mitbestimmung droht.

Wie ist das von dem politischen Ziel der europäischen Integration geprägte „aktivistische“ Selbstverständnis der Richter in Luxemburg zu erklären? Einerseits ist natürlich jeder, der in einer Organisation Karriere macht, daran interessiert deren Einfluss und damit auch den eigenen zu stärken. Höpner und andere Soziologen kommen allerdings zu dem Schluss, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommt: nämlich, „dass dem europäischen Rechtsdiskurs ein normativer, visionärer Impetus innewohnt.“ Salopper könnte man sagen: Europarechtler – und aus denen rekrutieren sich nun einmal die von den Nationalstaaten bestellten Richter des EuGH – sind integrationsfreundliche Überzeugungstäter. Höppner fordert angesichts der Tendenz der EuGH-Richter zur „Usurpation von Zuständigkeiten“ und zur „Radikalisierung der Binnenmarktintegration“ die Einführung einer politischer Kontrolle des Luxemburger Gerichts. Doch der politische Wille dazu, der naturgemäß nur von einer starken Koalition von Mitgliedsstaaten kommen kann, fehlt bislang.  

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