Gelsenkirchen Arbeitslosigkeit, Armut – aber das beste Mobilfunknetz

Mitten in Gelsenkirchen: Die Schalke-Arena. Quelle: imago images

Gelsenkirchen leidet unter Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und Luftverschmutzung – ist aber bei Digitalisierung weiter als andere. Gerade wurde dort das erste städtische 5G-Campusnetz in Deutschland eingeweiht.

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Die Statistik zeichnet ein trauriges Bild. Fast jedes zweite Kind in Gelsenkirchen lebt in Armut. Die Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen liegt bei 15 Prozent. 80 Prozent davon sind Langzeitarbeitslose. Zu Hochzeiten hatte es hier im Herzen des Ruhrgebiets einst 14 Zechen und 70 Schächte gegeben. Doch von 150 Jahren Bergbaugeschichte, die der Region einst Geld und Arbeitsplätze brachten, ist nicht mehr viel übrig. 2018 schloss der letzte Pütt im benachbarten Bottrop. Und nicht einmal mehr im Fußball spielt die Stadt vorne mit: Schalke 04 kämpft in der zweiten Liga gegen den Abstieg. 

Ausgerechnet hier an der Schalke-Arena, unmittelbar am Spielfeld, zieht jetzt die Zukunft ein. Die neuen 5G-Antennen übersieht man schnell, aber manchmal blitzen sie in der Herbstsonne auf. Mit ihnen funken die Stadtwerke in Eigenregie und in Echtzeit: Sie bilden Deutschlands erstes großes, städtisches Campus-Netz.

5G kennt jeder, doch kaum jemand kann es nutzen. Dabei ist die superschnelle Übertragungstechnik essenziell für die Wirtschaft. Sie ermöglicht revolutionäre Anwendungen wie die Echtzeitdiagnose von Maschinen, Fahrzeugen oder Gebäuden – und die entsprechenden Möglichkeiten wie vorausschauende Wartung, Optimierung der Produktion und selbstfahrende Autos.

In Gelsenkirchen lebt jedes zweite Kind in Armut. Quelle: imago images

Aber selbst vier Jahre nach der ersten Auktion der Netzfrequenzen durch die Bundesnetzagentur passiert in Deutschland wenig. Erst 350 Interessenten haben eine Lizenz für den Betrieb eines Campusnetzes beantragt, darunter vor allem Universitäten und Forschungsinstitute. Private 5G-Netze in den deutschen Fertigungshallen haben noch Seltenheitswert. Und das, obwohl Deutschland eines der wenigen Länder ist, das Frequenzen für private Nutzer reserviert hat. „Vielen Unternehmen ist das Potenzial noch gar nicht bewusst, weil es bisher nur wenige konkrete Anwendungsfälle gibt“, mutmaßt Mathias Kretschmer, Netztechnikexperte des Fraunhofer-Instituts FIT in St. Augustin bei Bonn.

Mehr Sicherheit bei Taylor-Swift-Konzerten

Ganz anders in Gelsenkirchen. Auf Hochtouren läuft dort das Projekt mit dem Codenamen „Dragon“. Das erste städtische 5G-Campus-Netz in Deutschland läuft auf 120 Hektar in unmittelbarer Nähe des Schalke-Stadions. Der Ort ist mit Bedacht gewählt: Im kommenden Jahr werden dort mit der Fußball-Europameisterschaft und drei Konzerten des US-Superstars Taylor Swift einige Großveranstaltungen stattfinden.

Wenn das Stadion voll ist, haben 60.000 Menschen hier Platz. 2,5 Millionen Gäste strömen im Jahr hierher. Jeder kennt das von Großveranstaltungen: Sind so viele aktive Handynutzer an einem Ort, ist das Netz schnell verstopft und telefonieren ist kaum noch möglich. Dazu kommen andere Probleme: Schlägereien von Fußballfans, Taschendiebe oder verstopfte Rettungswege. Von den Sorgen kann jeder Polizeieinsatzleiter ein Lied singen.

Dagegen hilft Information. Mit dem 5G-Campusnetz können Landes- und Bundespolizei, Feuerwehr und Krankenhäuser störungsfrei miteinander kommunizieren, auch wenn das Stadion voll ist. Zudem wird die Videoüberwachung mittels künstlicher Intelligenz in Echtzeit ausgewertet. Die KI warnt zum Beispiel, wenn Leute sich entgegen dem Strom der Menschen bewegen oder Gruppen mit unterschiedlichen Trikotfarben aufeinandertreffen. 

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Um vor und innerhalb der Arena Einsätze zu koordinieren, will die Stadt sich nicht auf die Funkzellen der Betreiber der öffentlichen Netze verlassen: Die können wegen der vielen Besucher schnell an die Grenzen ihrer Kapazitäten gelangen. „Das eigene Netz garantiert die Service-Qualität für unsere kritische Infrastruktur“, sagt Thomas Dettenberg, der den städtischen Glasfasernetzbetreiber Gelsen-Net leitet. Ausstatter und Mitbetreiber ist der US-Telekommunikationskonzern Verizon. Genutzt wird  Technologie von Nokia.
Natürlich gibt es auch vom Gelsenkirchener Stadion längst schon einen digitalen Zwilling. Hier werden Personenströme für Großevents simuliert – alles für die Sicherheit der Besucher: „Wir setzen auf die besten Technologien, um Fluchtwege sicherzustellen“ sagt Stadtrat Novack: „Ein Alptraum wie die Love-Parade in Duisburg darf sich niemals wiederholen.“

Top und Flop im Städteranking

Während Gelsenkirchen im WiWo-Städteranking seit dem Ausstieg aus der Kohle meist die Negativlisten unter den 71 deutschen Großstädten anführt –  fällt Gelsenkirchen beim Thema Digitalisierung schon länger positiv auf: Hier nimmt die einstige Bergbau-Stadt den zehnten Platz ein und liegt damit weit vor anderen NRW-Städten, wie der Landeshauptstadt Düsseldorf. „Die Digitalisierung unserer Stadt ist uns sehr wichtig“, sagt Stadtrat Simon Novack. 

An knapp der Hälfte aller Haushalte in Gelsenkirchen ist die Glasfaser bereits vorbeigelegt. Zehn Prozent der Haushalte sind bereits angeschlossen. Schon seit 2018 sind alle 87 Schulen der Stadt mit dem schnellen Netz verbunden. In Bussen und Bahnen gibt es kostenloses WLAN. Auch die Innenstadt ist mit Laternen ausgestattet, die gratis Internet liefern – oft sogar bis in die Wohnungen hinein. Sechs Millionen Euro reserviert die Stadt in ihrem Etat für Digitales. Hinzu kommen Fördermittel: Erst erhielt Gelsenkirchen vom Land NRW 15 Millionen Euro als Digitale Leitkommune ihres Regierungsbezirks. Jetzt fließen über vier Jahre 20 Millionen Euro aus dem Bundesprogramm „Modellprojekte Smart Cities“ nach Gelsenkirchen.

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Das 5G-Campus-Netz der Stadt steht auch Unternehmen offen, die sich auf dem Areal um den Arena-Park angesiedelt haben ­– genau wie der Feuerwehr, der Müllabfuhr, den Unternehmen der Stadtwerke und der Schule oder dem Freizeitbad.

Um die richtige digitale Lösung für konkrete Probleme aufzuzeigen, richteten Verizon, Gelsen-Net, Gelsenwasser und der Berliner 5G-Anwendungsexperte K-Tel gemeinsam den sogenannten „Digi Hub Ruhr“ ein. „Wir betreiben hier ein Reallabor mit dem Campus-Netz“, so Dettenberg.

Neben dem neuen 5G-Campus-Netz betreibt Gelsen-Net dafür bereits ein Glasfasernetz, ein WLAN-6-Netz und auch ein LoRaWAN-Netz, das mit wenig Energie auf lange Distanzen Messdaten funkt. 

Die Wahl von Verizon als Netzbetreiber kommt nicht von ungefähr: „Die Amerikaner betreiben schon viele Campus-Netze in ihrer Heimat und haben viel mehr Erfahrung mit Anwendungsbeispielen als deutsche Anbieter“, so Dettenberg. Auch die Anwendung für das Sicherheitsmanagement in der Schalke-Arena existiert bereits in den USA. Für Verizon aber handelt es sich um das erste Campus-Netz in Kontinentaleuropa. In England betreibt der Anbieter bereits für die Seehäfen Campusnetze, die das Verladen von Containern dokumentieren und steuern. 

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Vor zwei Jahren hatte der Flughafen Köln-Bonn das erste private 5G-Netz auf Open-RAN-Technologie mit NTT ausgebaut. Diese Lösung schied für K-Tel schnell aus: „Ein 5G-Netz zu betreiben ist anspruchsvoll genug. Wenn die Komponenten von unterschiedlichen Herstellern kommen, ist Problemen möglicherweise schwieriger auf die Spur zukommen, wenn Konkurrenten zusammenarbeiten müssen“, sagt Boris Krell, Geschäftsführer von K-Tel aus Berlin, der mit interessierten Unternehmen 5G-Anwendungen schneidert. Er stellt jetzt Berater ins Ruhrgebiet ab: „In Gelsenkirchen geht der Bau eines Campusnetzes wesentlich schneller als in Berlin“, sagt Krell, „denn während in Berlin oft nur Repräsentanten sitzen, sind hier die Entscheidungsträger alle vor Ort.“

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