Knauß kontert

Das Ende der Solidarität

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Hinter der Fassade des Sozialstaates gehen die Voraussetzungen für nachhaltige Solidarität verloren. Der Streik von einigen Hundert Piloten könnte ein Menetekel für die Zukunft sein.

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Stahlarbeiter der Hoesch AG, unterstützt von ihren Frauen, anderen Gewerkschaften sowie Arbeitslosen demonstrierten 1983 in Dortmund für den Erhalt des Werkteils P4 des Werkes Phoenix in Hoerde. Heute ist dort der Phoenixsee. Quelle: dpa Picture-Alliance

Solidarität. Bei dem Wort bekamen einst Sozialdemokraten aller Länder eine Gänsehaut. Solidarität war das heilige Wort der organisierten Arbeiterschaft. Alte Genossen verbinden damit vielleicht auch heute noch Bilder von hochgereckten Fäusten mit zerrissenen Ketten, von streikenden Malochern und Kumpels, die mit untergehakten Armen vor den Werktoren wachen und „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ singen.

Der Streik war angewandte Solidarität als Waffe im - mehr oder weniger friedlichen  - Klassenkampf. Man schließt die Reihen mit den Genossen gegen den Klassenfeind.

Und heute?

Wenn im Herbst 2016 von Streik die Rede ist, geht es nicht um „Genossen“, die die Reihen schließen gegen die Bajonette einer Staatsmacht, die sich zum Büttel der Kapitalisten gemacht hat. Heute streiken Lufthansa-Piloten, die etwa das drei bis vierfache eines Durchschnittsgehalts beziehen dafür, dass sie noch mehr bekommen. Dabei steigen ihre Gehälter ohnehin schon jährlich um mehr als drei Prozent, während der Durchschnittsdeutsche mit 2,4 Prozent zufrieden sein muss. Im Gegensatz zu den Erfindern des Streiks im 19. Jahrhundert motiviert sie nicht das drohende Elend ihrer hungernden Kinder, sondern die Aussicht auf einen neuen SUV oder die Villa am Taunushang.

Welche Rechte Fluggäste bei Streik haben

Ist das Solidarität? Ja, auch die Piloten sind solidarisch. Aber eben nicht mit ihrer Klasse, sondern mit ihrer kleinen Interessengemeinschaft hochspezialisierter Luftkutscher. Die real existierende Solidarität ist, wie dieses Beispiel zeigt, in der harten Wirklichkeit in einem Prozess der Rückentwicklung begriffen – während sie als pathetisches Schlagwort immer noch hoch im Kurs steht. Sie zieht sich von der großen Bühne dahin zurück, wo sie herkommt: auf die kleine, verschworene, „solide“ Gemeinschaft, die gegen eine feindselige Umwelt zusammen hält.  

„Alle für einen, einer für alle“. Das Motto der drei Musketiere ist die einfachste Definition dessen, was Solidarität bedeutet. Und es zeigt, wo die Wurzeln liegen: im Kampf. Daran erinnert auch das Wort „Genosse“, im französischen und englischen Sprachraum ist es der „Camerade“/“Comrade“. Das soziale Phänomen der Solidarität ist also viel älter als die Sozialdemokratie und der Klassenkampf, älter als der Staat. Vermutlich ist es so alt wie die Menschheit, die Jahrtausende lang aus kleinen Gemeinschaften von Jägern und Sammlern bestand, die niemandem trauen konnten außer ihren eigenen Angehörigen.

Die Weltgeschichte kann man auch als Geschichte der Fortentwicklung von Solidargemeinschaften verstehen. Ab dem 19. Jahrhundert verlief diese besonders dynamisch. Die überkommenen kleinen Solidargemeinschaften - Dörfer, Zünfte und andere - verloren an Bedeutung, größere, abstrakte Gemeinschaften gewannen an Zusammenhalt, bauten Sicherheitsleistungen aus, obwohl sich die Gemeinschaftsmitglieder nicht mehr persönlich kannten. Politiker wie Bismarck sorgten durch die Schaffung von Sozialversicherungen dafür, dass die Nationen – zumindest in der westlichen Welt – zu großen Solidargemeinschaften wurden. In den Weltkriegen erwies sich die nationale Solidarität als stärkere Bindekraft als die internationale Klassensolidarität.  

Lauter kleine Solidargemeinschaften

Wo es Solidarität geben soll, wo einer für den anderen zu opfern bereit sein soll, da muss es immer ein „wir“ geben – die „Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit“, wie das der Soziologe Alfred Vierkandt nennt.

In der großen abstrakten Solidargemeinschaft, in der man diejenigen, die zum „wir“ gehören, nicht mehr persönlich kennt, sind die Vorgänge des Hilfe Gebens und des Nehmens notwendigerweise durch Bürokratie entfremdet. Umso wichtiger ist Klarheit darüber, wer „wir“ sind. Die größte und politisch wichtigste Solidargemeinschaft war – bis vor einiger Zeit relativ unangefochten - die Nation.

Dass die so genannte Globalisierung, also der Bedeutungsverlust des Nationalstaats das Prinzip der Solidarität grundlegend in Frage stellt, ist eines der großen Tabus der gegenwärtigen Politik. Die Linke vernebelt das Dilemma mithilfe ihres alten Topos von der „internationalen Solidarität“ – und der Rest des politischen Spektrums lässt sich davon mangels eigener Lösungen mitziehen. In Deutschland ist das ganz besonders verführerisch, da hierzulande die Flucht aus der Nation als Lehre aus der eigenen unheilvollen Geschichte verstanden wird.

Also verschwimmen heute in der politischen Kommunikation die Konturen des Solidaritätsbegriffs. „Internationale Solidarität“ wird – mangels internationaler Solidargemeinschaft – immer mehr zu einer Pflicht zur Barmherzigkeit, also einseitiger Hilfe, uminterpretiert. Man ignoriert, dass Solidarität keine einseitig gewährte Gnade ist, sondern ein System der Gegenseitigkeit: das Recht zu nehmen ist an die Pflicht zu geben gekoppelt. Dass ein solches System nicht funktionieren kann, wenn  jeder Außenstehende zum Empfänger werden kann, ohne zuvor zumindest auch ein potenzieller Geber zu werden, liegt auf der Hand. Eigentlich. Doch die Schieflage wird durch das Pathos der „Willkommenskultur“ und die allgemeine Begeisterung über die neue Grenzenlosigkeit vernebelt. Und so glaubt man Solidarität zu üben, wenn man bedingungslos Segnungen des Sozialstaates an Einwanderer verteilt.

Angesichts solcher Widersprüchlichkeiten ist es kein Wunder, dass immer mehr Menschen den Überblick verlieren. Wer ist nun das „wir“, innerhalb dessen alle für einen und einer für alle da sein soll? Deutschland? Nein, das ist vorbei, vermitteln die politischen Eliten im Zeitalter der Globalisierung. Aber eine realistische Alternative als Solidargemeinschaft ist nicht in Sicht. Und so droht sich das Bewusstsein für die Solidarität hinter der Fassade der ausufernden Hilfsleistungen des Sozialstaates aufzulösen.

Und was bleibt stattdessen? Wenn das Vertrauen in große Solidargemeinschaften schwindet, bietet sich der Rückzug auf bewährte, überschaubare Solidargemeinschaften an, deren Grenzen eindeutig und gut gesichert sind. Der Aufstieg von Spartengewerkschaften wie der Pilotenvereinigung „Cockpit“ oder der ebenso berüchtigten Gewerkschaft der Lokomotivführer“  ist vielleicht ein Menetekel dafür, was noch bevorsteht: verschärfte Verteilungskonflikte zwischen lauter kleinen Solidargemeinschaften.    

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