Die ganz unten und die ganz oben ziehen sich beide in ihre Parallelgesellschaften zurück, leben von dem, was die in der Mitte erwirtschaften, und zersetzen gemeinsam den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Asozialen, so Wüllenwebers These, sitzen ebenso in den Sozialwohnungen in Essen-Katernberg wie in den Villen von Bad Homburg. An den beiden Enden der Gesellschaft kann man vergleichbare Verhaltensweisen wahrnehmen: Die einen betrügen die Arbeitsagentur, die anderen das Finanzamt.
Wüllenweber hat zwar nicht versucht, selbst wie ein Hartz-IV-Empfänger zu leben, aber er war nahe an ihnen dran. Seine Reportagen für den Stern aus den Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern gehören zum Besten, was der deutsche Journalismus in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Sie sind auch in sein Buch eingeflossen. Wüllenweber saß bei Familien auf dem Sofa, deren Fernseher nie schweigt. Er traf junge Mädchen, die stolz darauf sind, dass sie Sex mit mehreren Männern gleichzeitig hatten. Die aber nicht wissen, was ein Liebesbrief ist.
Jungs, die nicht rudern können
Das Ausmaß der Verwahrlosung der Unterschicht und ihren Abschied von der bürgerlichen Gesellschaft verdeutlicht sein Besuch bei einem Berliner Ruderverein. „Die heutige Unterschicht kann nicht rudern“, berichtet ihm ein Trainer, der versucht hat, in den entsprechenden Wohngebieten Jungs für seinen Sport zu begeistern. Nach wenigen Wochen war keiner mehr übrig. Typische Neuköllner Jungs hätten eben nicht das, was man beim Rudern braucht: Disziplin, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein.
Die Unterschicht hat sich weitgehend vom Sport verabschiedet, von der Musik sowieso. Auch das Engagement von Arbeitslosen in Kirchen, Parteien oder Vereinen ist weit unterdurchschnittlich. Die Unterschicht, die Wüllenweber präsentiert, arbeitet nicht, aber sie tut auch sonst nichts, was in irgendeiner Weise dem eigenen Wohl oder dem der Gesellschaft dienlich wäre.
Und darin ähnelt sie, so Wüllenwebers These, dem obersten Prozent der wirklich Reichen. Bei diesen Reichen saß Wüllenweber nicht auf dem Sofa. Sie ließen ihn nicht drauf. Und genau das, ihre Unsichtbarkeit, ist das Indiz für den Rückzug aus der Gesellschaft, die Flucht vor der Verantwortung. Charakteristisch die Aldi-Albrechts, von denen niemand so recht weiß, was sie tun. Und mit 18 Milliarden Euro geschätztem Vermögen ließe sich so einiges tun. Aber, so Wüllenweber, den Reichen genügt es, einfach nur reich zu sein.