Sigmar Gabriel „Ich schaufle mir mein eigenes Grab“

Er gilt als das größte politische Talent seiner Generation. Sigmar Gabriel hätte vielleicht das Zeug zum Kanzler gehabt. Zu oft stand er sich selbst im Weg. Nun dreht er seine womöglich letzten Runden in Niedersachsen.

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Der amtierende Außenminister (SPD) blickt seinen letzten Tagen als Chefdiplomat der Bundesrepublik entgegen. Quelle: dpa

Hannover/Einbeck Sigmar Gabriel gewährt einen Blick in sein Seelenleben. Es sei schon ein „ganz schräges Gefühl“, immer noch als Außenminister unterwegs zu sein, während die anderen an Jamaika basteln, erzählt er im „Café Spesso“ in Hannover, Stadtteil Bothfeld. Nebenan verramscht ein Matratzenladen seine Produkte zu Kampfpreisen, vor der Fensterfront donnert die Straßenbahn in die City. Zwei alte Damen, die sich für den schlanken Vizekanzler im azur-blauen Jackett hübsch gemacht haben, verputzen vergnügt ihr Tiramisu.

Die SPD ist gerade bei der Bundestagswahl auf 20,5 Prozent abgeschmiert. Aus und vorbei. Keine neue „Groko“ in Berlin, wie Gabriel bis zum Schluss gehofft hat. Kein Ministeramt mehr. Bye-bye Weltpolitik. Opposition. Generationenwechsel bei den Sozialdemokraten. Für Gabriel ist da kein Platz mehr in der ersten Reihe. Jedenfalls sieht es derzeit stark danach aus. Im neuen ARD-Deutschlandtrend geht es mit der Popularität des Chefdiplomaten bereits steil bergab.

Seine Frau Anke stimme ihn längst auf die Zeit nach dem grellen Scheinwerferlicht ein. „Na, hast Du Dich schon daran gewöhnt, nicht mehr wichtig zu sein?“, bekomme er seit der Bundestagswahl in Goslar zu hören. Der eigentliche Kampf finde eben nicht im Wahlkampf, sondern zu Hause statt, scherzt Gabriel bei der Veranstaltung in Hannover, die den Titel „Auf ein Wort mit...“ trägt.

Edmund Stoiber, der frühere CSU-Ministerpräsident, richte immer schöne Grüße an Anke aus. Sie sei „der einzige Mensch mit Verstand“ im Hause Gabriel – die Zahnärztin, mit der der 58-Jährige gerade erst noch ein kleines Mädchen bekommen hat, ist Bayern-Fan. Gabriel drückt Werder Bremen die Daumen. Die im Minutentakt in freier Rede den Jusos und Omas dahingeworfenen Anekdoten sollen den Schmerz überspielen, der ihn ohne Frage plagen dürfte.

Siebeneinhalb Jahre war der frühere Lehrer, der als Kind unter einem hasserfüllten Nazi-Vater litt, SPD-Vorsitzender. So lange wie keiner seit Willy Brandt. Anfang Januar, nach Monaten des Zauderns, trat er zurück. Gabriel überließ Martin Schulz die Bühne. „Mach Du es, mich wollen sie nicht“, sagte er da zu Schulz, der nur kurz im 100-Prozent-Glück baden durfte. Die Partei, die mit Gabriel stets haderte und er mit ihr, applaudierte. Die Rede war von einer heroischen Tat.

Mittlerweile sind andere Töne zu vernehmen. Spitzengenossen glauben, Gabriel habe nicht ganz uneigennützig gehandelt. Als er Frank-Walter Steinmeier gegen den Willen der Kanzlerin zum Bundespräsidenten machte, war für ihn selbst der Weg ins Auswärtige Amt frei. Schulz sollte sich als Kanzlerkandidat abstrampeln, um dann Seit' an Seit' mit Gabriel in einer neuen Groko zu landen. Daraus wurde nichts. Drei, vier Prozentpunkte fehlten der SPD, sonst wäre Gabriels Kalkül aufgegangen. Noch ist Schulz als Parteivorsitzender da, Olaf Scholz, Manuela Schwesig warten ab. Das neue Machtzentrum liegt in der Fraktion, bei Andrea Nahles. Und Gabriel? Kann er damit seinen Frieden machen?


„Mit denen redet doch sonst keiner“

Nach der Wahl fiel er in ein Loch. Am Abend des 24. September stand er im Willy-Brandt-Haus ganz hinten auf der Bühne. Geduckt, erschüttert. Zehn Tage lang tauchte Gabriel ab. Seine Mitarbeiter machten sich Sorgen. Dann meldete er sich zurück. Wo? Natürlich in der Heimat. Vom „roten Klops“ spricht Gabriel stolz. Während die SPD überall den Bach runterging, verteidigten Gabriel und seine Mitstreiter die Bastion Braunschweig und Umgebung.

Er holte mit knapp 43 Prozent wieder sein Direktmandat – das zweitbeste Ergebnis eines SPD-Kandidaten im ganzen Land. „Wir kümmern uns jeden Tag, nicht nur vier Wochen vor der Wahl.“ Er gab dem Kreml-nahen TV-Sender „Russia Today“ ein umstrittenes Interview, um die Russland-Deutschen in seinem Wahlkreis zu erreichen: „Mit denen redet doch sonst keiner.“

Demnächst, wenn er nicht mehr „Mister Wichtig“ in Berlin ist („Ich hab' ja jetzt Zeit“), will er einen VW-Bus mieten, einen pensionierten Arbeits- und Sozialrechtler einladen und jene Stadtteile abklappern, wo 40 Prozent der Menschen AfD gewählt haben. Die SPD dürfe der schwierigsten aller Fragen jetzt nicht ausweichen: „Warum waren wir so sehr zufrieden mit unserem Programm, aber die Wählerinnen und Wähler nicht?“

Der Fokus auf soziale Gerechtigkeit habe die Menschen nicht überzeugt. Die Deutschen hätten auf Stabilität geschaut – und dort, wo der Staat Schulen, Krankenhäuser und Bushaltestellen dichtgemacht habe, aus Protest die Rechten gewählt.

Gabriel kennt die Mechanismen in der SPD. Unter seiner Führung wurden die Pleiten von 2009 und 2013 verdrängt. „Die Lieblingsausrede ist, die Plakate waren schlecht.“ Einfach werde es nicht, es gebe sicher viele Gründe: „Viele Hunde sind des Hasen Tod.“ Die SPD sei nicht nah genug an den Alltagssorgen der Bürger, zu elitär. Gabriels Funktionärs-Bashing ist berüchtigt. „Könnt ihr Euch vorstellen, im SPD-Ortsverein steht einer auf und sagt: Ich bin Raucher, gucke RTL und finde das mit den Flüchtlingen schwierig“, fragte er dieser Tage in Helmstedt in die Runde. „Oder schließen wir ihn unmittelbar aus der SPD aus?“

„Irgendwann“ werde er sich mit Vorschlägen zur SPD-Erneuerung zu Wort melden. Für viele in der Partei dürfte das wie eine Drohung klingen. Umgekehrt darf man fragen: Wer außer Gabriel kann so fulminant, ohne Manuskript, die Weltlage von Trump bis Kim, von Angst vor Terror und Flüchtlingen, den Aufstieg der AfD und das Versagen der Volksparteien so unters Volk bringen, dass selbst alte Genossen an seinen Lippen hängen?


„Der schönste Job meines Lebens“

In der Fraktion hoffen sie, Gabriel, der Architekt der Groko 2013, habe kapiert, dass seine große Zeit vorbei sei. Aber ist das wirklich so? Gabriel, der brave Hinterbänkler? Wie eine Abschiedstournee wirken seine Auftritte in Niedersachsen, wo SPD-Ministerpräsident Stephan Weil am Sonntag eine überraschende Titelverteidigung winkt, keineswegs.

Er wird beobachten, was Andrea Nahles (die er lobt) an der Fraktionsspitze macht. Was aus dem angeschlagenen Schulz wird, den er bei seinen jüngsten Auftritten mit keinem Wort erwähnt.

Am Montag fliegt Gabriel noch mal zum EU-Außenministertreffen nach Luxemburg. Andere Auslandsreisen sind in Planung, bis Jamaika die Regierungsgeschäfte übernimmt. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der Bundestagspräsident wird, knallt er noch vor den Latz, die CDU wolle das Auswärtige Amt „plündern“ und in der Europapolitik entmachten. Ein kostenloser Tipp für Cem Özdemir, sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen.

Nach dem Kaffeekränzchen in Hannover taucht Gabriel in Einbeck auf. Südniedersachsen, „Hotel Panorama“, Publikum 60 plus, viel weißes Haar. Dort schließt sich für ihn gewissermaßen ein Kreis. Als junger Mann arbeitete er als Bierkutscher bei der ortsansässigen Brauerei, übrigens die älteste in Deutschland.

Fast jeder Sozialdemokrat hat von Gabriel schon mal die Geschichte erzählt bekommen, wie er als Fahrer täglich ein „Deputat“ von sechs Flaschen Bier bekam. „Der schönste Job meines Lebens“, sagt er auch jetzt. „Ich hab' da nur aus gesundheitlichen Gründen aufgehört.“

Und in der SPD, „isch over“ für Siggi? Einem Jungsozialisten rät er, den alten Hasen zu widersprechen, mutig zu sein, den Laden aufzumischen. Wie er sich da so reden hört, sagt Gabriel grinsend: „Ich schaufle mir mein eigenes Grab.“ Um spöttisch nachzuschieben: „Das ist auch schon ausgehoben.“ Aber wer weiß, bis zur Beerdigung seiner politischen Laufbahn könnte noch einiges passieren.

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