Tarifpolitik Der Staat mischt in der Lohnfindung immer stärker mit

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Anwalt der Benachteiligten

Wo Mindestlöhne gelten
Die zwei-Millionen-AusnahmeFünf Millionen Menschen könnten vom gesetzliche Mindestlohn profitieren. Doch es gibt immer mehr Ausnahmen. Minijobber, Rentner, Schüler, Studenten und hinzuverdienende Arbeitslose sollen den Mindestlohn nicht bekommen. Nach einer Analyse der Böckler-Stiftung sind rund zwei Millionen Menschen davon betroffen. Das wäre weit mehr als ein Drittel der rund 5 Millionen Menschen in einem Arbeitsverhältnis, die derzeit für einen Stundenlohn unterhalb von 8,50 Euro arbeiten. In vielen Berufen in Deutschland gibt es bereits Mindestlöhne. Quelle: dpa
AbfallwirtschaftEin gesetzlicher Mindestlohn würde den staatlichen Haushalt entlasten, heißt es in einer aktuellen Studie des Forschungsunternehmens Prognos. Bei einer Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde könnte der Staat mit Mehreinnahmen von mehr als sieben Milliarden Euro im Jahr rechnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten existiert in Deutschland bislang kein gesetzlicher Mindestlohn. Bislang wurde die Lohnuntergrenze nur in einigen Bereichen festgelegt. wiwo.de hat ermittelt, welche Mindestlöhne aktuell in Branchen gelten. Im Lohn-Mittelfeld liegen etwa die Mitarbeiter in der Abfallwirtschaft. Die Branche mit 175.000 Arbeitnehmern hat zurzeit einen Mindestlohn von 8,68 Euro. Quelle: ZBSP
BauhauptgewerbeRund 432.200 der Beschäftigten im westdeutschen Bauhauptgewerbe sind durch Mindestlöhne geschützt. Sie sind differenziert nach sogenannten Werkern (11,10 Euro) und Fachwerkern (13,95 Euro, Berlin: 13,80 Euro). Für die 128.000 Werker in den neuen Bundesländern beträgt der Mindestlohn 10,50 Euro. Die Mindestlöhne der westdeutschen Beschäftigtengruppe sollen ab dem 01. Januar 2015 auf 11,15 Euro (Werker) bzw. 14,20 Euro (Fachwerker) angehoben werden, in Ostdeutschland auf 10,75 Euro. Quelle: dpa
BergbauspezialistenDer Mindestlohn betrifft hier nur rund 2.500 Arbeitnehmer. Bei einfacheren Tätigkeiten gilt der Mindestlohn I in Höhe von 11,92 Euro. Bei Hauern und Facharbeitern gilt der Mindestlohn II in Höhe von 13,24. Quelle: dpa
DachdeckerhandwerkIm Westen und Osten galt bis jetzt für rund 71.900 Beschäftigte ein Mindestlohn von 11,55 Euro. Zum 1. Januar 2015 ist ein Anstieg auf 11,85 Euro geplant. Quelle: dpa
Elektrohandwerk (Montage)Betroffen sind rund 295.700 Beschäftigte, die bisher mindestens 10,00 Euro (Ostdeutschland inkl. Berlin: 9,10 Euro) erhalten mussten - zum 01. Januar 2015 wird dieses Limit auf 10,10 Euro (West) bzw. 9,35 Euro (Ost) angehoben. Quelle: dpa
GebäudereinigerhandwerkVon rund 700.000 Arbeitnehmern ist in der Branche nur etwa die Hälfte sozialversichert. Im Bereich Glas-, Fassaden- und Verkehrsanlagenreinigung beträgt der Mindestlohn aktuell 10,31 Euro in den neuen und 12,33 Euro in den alten Bundesländern. Ab dem 01. Januar 2015 sollen die Mindestlöhne auf 12,65 Euro (West) bzw. 10,63 Euro (Ost) angehoben werden. Im Segment der Innen- und Unterhaltsreinigung steigen die Mindestlöhne in den neuen Bundesländern von aktuell 7,96 Euro auf 8,21 Euro und von 9,31 Euro auf 9,55 Euro pro Stunde in den alten Bundesländern. Quelle: dpa
  • Immer mehr Landesregierungen beschließen auf Wunsch der Gewerkschaften auch sogenannte Tariftreue-Regeln. Danach dürfen nur noch solche Betriebe Staatsaufträge erhalten, die bestimmte Tarifstandards einhalten. Die große Koalition prüft ein solches Tariftreuegesetz nun auch auf Bundesebene. „Die Tarifbindung erodiert seit Jahren, das müssen Gewerkschaften und Politik gemeinsam ändern“, sagt Verdi-Boss Bsirske.

Die Interessenlage bei den Gewerkschaften ist allerdings speziell beim Mindestlohn nicht so einheitlich, wie es die offiziellen Statements vermuten lassen. Die treibenden Kräfte sind die von Niedriglöhnen am meisten betroffenen Gewerkschaften Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Verdi. NGG-Chefin Michaela Rosenberger gibt freimütig zu, dass der Mindestlohn im Niedriglohnbereich Jobs kosten könnte: „Das müssen wir in Kauf nehmen. Ich bin nicht dazu da, den Arbeitgebern ihr Geschäftsmodell zu entwerfen“, sagte sie der „Welt am Sonntag“. Unterstützung kommt vom DGB, der mit dem Mindestlohn endlich das lang ersehnte gewerkschaftsübergreifende Thema gefunden hat, mit dem er sein Profil schärfen kann.

Doch schon bei der IG Metall wird die Lage diffiziler: Die größte deutsche Gewerkschaft präsentiert sich in der Mindestlohndebatte als Anwalt der Benachteiligten, ohne selbst auch nur ansatzweise betroffen sein. Selbst in der untersten Lohngruppe verdienen die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie mehr als 13 Euro die Stunde. Für die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) schließlich, die frühere Mindestlohnvorstöße im DGB stets ausgebremst hatte, ist die Zustimmung eher ein Akt innergewerkschaftlicher Solidarität.

„Der gesetzliche Mindestlohn ist sicher nicht das tollste Projekt der deutschen Sozialgeschichte“, gesteht ein Spitzenfunktionär. Man habe den Widerstand aber aufgegeben, weil „wir einsehen mussten, dass die Gewerkschaften in einigen Bereichen schlicht nicht handlungsfähig sind“.

Aber liegt das am Ende vielleicht an den Gewerkschaften selbst? Claus Weselsky, der um Provokationen nie verlegene Chef der Lokführergewerkschaft GDL, hat für die Strategie der DGB-Kollegen nur Hohn und Spott übrig: „Ein gesetzlicher Mindestlohn wäre ein Offenbarungseid für die Gewerkschaften.“

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