Radikal egalitäre Ziele, wie sie etwa in der Forderung der Linkspartei nach "Reichtum für alle" zum Ausdruck kommen, hat die Mehrheit nicht. 70 Prozent unterstützen die Forderung "Wer mehr leistet, soll auch mehr verdienen als derjenige, der weniger leistet". Nur neun Prozent halten eine Gesellschaft für gerecht, "in der es keine großen Einkommensunterschiede gibt". Das Leistungsprinzip wird von den meisten auch mit den sozialen Sicherungssystemen verknüpft: 76 Prozent halten es für ungerecht, wenn Geringverdiener nur unwesentlich mehr Geld bekommen als Arbeitslose. „Die große Mehrheit möchte keine egalitäre Gesellschaft, sondern akzeptiert soziale Unterschiede – aber unter der Bedingung, dass auch, vor allem über politische Maßnahmen, ein sozialer Ausgleich erfolgt“, sagt Allensbach-Chefin Renate Köcher.
Dass sie eine nach dem Leistungsprinzip sozial differenzierte Gesellschaft prinzipiell für gerecht halten, heißt allerdings nicht, dass die Deutschen das real existierende Ausmaß der sozialen Ungleichheit gutheißen. "Die große Mehrheit ist seit Jahren überzeugt, dass die sozialen Unterschiede kontinuierlich wachsen und ein ungesundes Maß erreicht haben", heißt es in der Untersuchung. Verantwortlich dafür machen die Bürger offenbar aber weniger die Unternehmen als vielmehr die Politik. 65 Prozent glauben, dass die Politik mehr als die Wirtschaft dazu beitragen könnte, "dass es gerecht zugeht". Interessanterweise wird dem Staat, beziehungsweise dem Steuersystem unterstellt, dass es die sozialen Unterschiede vergrößert (73 Prozent).
Die Deutschen wünschen sich offenbar einen starken, eingreifenden Staat, der noch mehr als bisher die Ungleichheiten besänftigt, die im Wirtschaftsleben produziert werden. Die Frage, die die Untersuchung nicht beantworten kann, ist, inwieweit diese enorme Erwartungshaltung, die entsprechend hohes Enttäuschungspotenzial mit sich bringt, von den Parteien auch selbst provoziert wird. Wer wie die politischen Parteien in den Wahlkämpfen viel Gerechtigkeit verspricht, von dem wird auch erwartet, dass er dafür sorgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis seines Handelns mehr Enttäuschung als Zufriedenheit bewirkt, ist groß.
Ein wenig Dampf aus dem politischen Gerechtigkeitsdiskurs abzulassen, forderten daher schon vor dem letzten Bundestagswahlkampf Ulrike Meyer und Rainer Maria Kiesow vom Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in ihrem Forschungsprojekt die "Diktatur der Gerechtigkeit". Gegen Gerechtigkeit als Supernorm gibt es durchaus vernünftige Vorbehalte. Vor allem den, dass die Allgegenwart des Anspruchs auf Gerechtigkeit aufgrund politischer Propaganda im Widerspruch steht zu der von vielen Soziologen, Politologen und Juristen gewonnenen Überzeugung, dass es eine verallgemeinerbare Substanz von Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt. Gerechtigkeit sei "eine ,normative Black Box', in die alles und nichts hineingelegt und -gelesen werden kann", schreiben Kiesow und Meyer.
Sie sind nicht die ersten, die das erkannt haben. Der positivistische Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881-1973) stellte in einem berühmten Aufsatz sich selbst dieselbe Frage wie das Allensbach-Institut den Deutschen - "Was ist Gerechtigkeit?" Seine Antwort: nur "inhaltsleere Formeln". Dafür, dass die Gesellschaft funktioniert, so Kelsen, ist allenfalls "relative Gerechtigkeit" wichtig, in anderen Worten: Toleranz für die Ungleichheit.