Die FDP ist schuld. Wieder mal. Das allein wäre für übelwollende Zeitgenossen keine Nachricht, bis auf die Tatsache vielleicht, dass das auch im Mai 1949 nicht anders war. Der politischen Legende nach war es ein Liberaler, der damals jenen Stimmen-Kompromiss vorgeschlagen hatte, der das deutsche Wahlsystem bis heute prägt - und den das Bundesverfassungsgericht heute mit seinem Urteil verworfen hat.
Der Liberale Max Becker, ein promovierter Jurist, saß vor 63 Jahren dem Wahlrechtsausschusses des Parlamentarischen Rates vor. Der Job war einer der schwierigsten seiner Zeit, denn der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte zum Wahlsystem keinen konkreten Vorschlag vorgelegt. In Beckers Ausschuss hatten die Mitglieder daher lange darum gerungen, wie in Deutschland künftig gewählt werden solle. Dabei standen sich zwei Meinungen gegenüber: CDU und CSU erwärmten sich für ein relatives Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild, dagegen bevorzugten die Sozialdemokraten die Verhältniswahl.
Nach komplizierten Verhandlungen verständigten sie sich auf ein Misch-System: Über die Erststimme wird ein Teil der Mandate seither direkt an jenen Wahlkreiskandidaten mit den meisten Stimmen vergeben. Über die Zweitstimme wird ein anderer Teil anhand von Parteilisten verteilt. Blieb nur das Problem, was eigentlich geschehen würde, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil eigentlich zugerechnet werden müssten.
Es soll Max Becker gewesen sein, der ein Modell vorschlug, das später unter dem Namen „Überhandmandat“ bekannt wurde: Das Direktmandat steht dem gewählten Abgeordneten demnach immer zu, selbst wenn dadurch die Zahl der Sitze im Parlament steigt. Der Wahlrechtsausschuss stimmte zu – nicht ahnend, dass sich später ein ganz anderes Problem auftun würde. Durch ein Phänomen, das die Verfassungsexperten „negatives Stimmgewicht“ nennen, kann es passieren, dass eine Partei trotz Stimmenverlusten bei der Wahl Mandate gewinnt. Ein echtes Paradoxon, das die Karlsruher Richter schon 2008 für verfassungswidrig erklärten. Sie gaben der Bundesregierung drei Jahre Zeit, um das Bundeswahlgesetz zu ändern.
Die Regierung muss sofort handeln
Aber auch jene Neuregelung, die die Bundesregierung erst mit fünfmonatiger Verspätung vorlegte, hat das Verfassungsgericht heute wieder einkassiert. Die Verteilung der Abgeordnetensitze „verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit“, heißt es in dem Urteil. Schallender kann eine Ohrfeige aus Karlsruhe kaum ausfallen.
Übergangsfristen lässt das Gericht dieses Mal nicht zu. Die Bundesregierung muss sofort handeln. Dabei dürfen sich alle Parteien angesprochen fühlen - nicht nur das schwarz-gelbe Bündnis, dessen Gesetz so schnell gekippt wurde. Schon die große Koalition von Union und SPD hatte keine Reform hinbekommen. Allerdings ist der Zeitpunkt des Urteils für die Regierung nun fatal.
Spätestens im nächsten Oktober muss der Bundestag neu gewählt werden. Bis dahin muss das neue Gesetz vorliegen, soll die Wahl auf dem Boden der Verfassung stattfinden. Und zwischendrin heißt es – ganz nebenbei bemerkt - schließlich auch noch: Rettet den Euro.
Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung jetzt schnell einen neuen Vorschlag vorlegt – und sich dazu auch mit der Opposition einigt, damit die nicht wieder den Klageweg einschreitet. Die SPD hat dazu ihre Bereitschaft bekundet. In der Eurokrise ist das wichtiger denn je. Der Vertrauensverlust in das Parlament und seine Vertreter nimmt bedenkliche Züge an.
Es wächst die bittere Erkenntnis, dass die nationalen Parlamente immer mehr Einfluss an Brüssel abgeben werden. Es entsteht das schale Gefühl, dass Entscheidungen über Rettungspakete und Hilfsmaßnahmen zu komplex sind, um sie zu durchdringen. Und es bleibt bei vielen Wählern der Eindruck, dass die Politik ihr Primat längst aufgegeben hat.
Wenn Bürger nun auch noch das Gefühl haben, dass es am Wahltag nicht mit rechten Dingen zugeht, dass ihre Stimme nicht zählt, wäre das für die Demokratie fatal. Sollte es tatsächlich eine politische Entscheidung geben, die absolut alternativlos ist, dann ist es die Reform des Wahlrechtes.