Brexit Zugeständnisse für David Cameron wecken Begehrlichkeiten

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Nebensächlich für den Steuerzahler, irrelevant für Europa

Statt mithilfe dieses Urteils aber den Wunsch der Rumänen abzulehnen, erfanden die deutschen Sozialrichter eine neue Rechtsnorm. Ihr Tenor: Zwar hätten die Kläger keinen Anspruch auf Hartz IV, da sie aber länger als sechs Monate in Deutschland lebten, müsse sich der deutsche Staat trotzdem um sie kümmern. Ihnen stehe Hilfe zum Lebensunterhalt, also Sozialhilfe, zu.

Starker Zuzug: In Deutschland lebende EU-Ausländer. (zum Vergrößern bitte anklicken)

„Seitdem häufen sich die Klagen“, berichtet Welge, „mehr als 70 ähnliche Verfahren“ gebe es allein in Gelsenkirchen. Sollte die Politik nicht tätig werden, plant sie mit zweistelligen Millionenkosten, allein in diesem Jahr. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit 130.000 neuen Antragstellern und Zusatzkosten von rund 600 Millionen Euro pro Jahr bundesweit.

Es geht aber nicht nur ums Geld und nicht nur um das Geplänkel zwischen verschiedenen Verwaltungsinstanzen. Bis zum Urteil des EuGH vom vergangenen Jahr hatten Zuwanderer aus anderen EU-Staaten Anrecht auf Hartz-IV-Leistungen sowie Wohngeldzuschüsse. Hartz IV zahlt der Bund, das Wohngeld zu zwei Dritteln die Kommunen. Wenn aus den Hartz-IV-Empfängern jetzt Sozialhilfefälle werden, dann wechseln sie nur die Kostenstelle: Sozialhilfe zahlt zu 100 Prozent die Kommune. Das mag für Gelsenkirchen ärgerlich sein, für den deutschen Steuerzahler ist es nebensächlich, für Europa irrelevant.

Die Dimension der Entscheidung ergibt sich aus dem Denkmuster des Urteils: Es darf nicht sein, dass der deutsche Staat Bürger Europas, die Hilfe begehren, einfach abweist. Wo die geltenden Regeln diese Konsequenz vorsehen, müssen die Regeln falsch sein, so offenbar die Denke der Richter.

Aber ist so ein umfassendes Versorgungsverständnis wirklich noch europäische Integration? Oder ist hier ein guter Gedanke zum Dogma geworden und verstellt so den Blick für das Machbare?

Unter Zugzwang: Arbeitsministerin Andrea Nahles Quelle: REUTERS

„Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind abstrus“, erläutert Kämmerin Welge. „Um zu verhindern, dass Menschen zu uns einreisen, nur um bessere Sozialleistungen zu kassieren, müssen wir Kommunen in Zukunft prüfen, ob für EU-Ausländer in der Stadt noch das Recht auf Freizügigkeit gilt.“ Das hieße: Überwachung der Zuwanderer, um zu unterscheiden, wer wirklich Arbeit sucht und wer nur sechs Monate überbrücken will, um Sozialleistungen zu erhalten. „Es gibt in Europa sehr unterschiedlich auskömmliche Sozialsysteme – und damit immer Anreize, sie zu wechseln“, sagt Rene Geißler, auf Sozialrecht spezialisierter Wissenschaftler von der Bertelsmann-Stiftung. „Das zu fördern hat aber nichts mit der Idee von Freizügigkeit zu tun.“

Vielleicht hat sich auch Andrea Nahles (SPD) solche Gedanken gemacht, als die neue Linie der Richter im Dezember an sie herangetragen wurde. Offiziell sagt die Bundesarbeitsministerin, man müsse die Begründung des Gerichts in Ruhe analysieren, die seit gut zwei Wochen vorliegt. Zum Jahreswechsel kündigte sie an, in jedem Fall werde man „die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen“. Irgendwann im Januar aber hat man in der Bundesregierung entdeckt, dass in diesem Urteil mehr steckt als neuer Streit mit Bürgermeistern, die wegen der Flüchtlingskosten ohnehin aufgebracht sind.

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