Europäische Union Scharfe Töne zwischen Ankara und Brüssel

Im Streit zwischen der Türkei und der EU wird kein Blatt mehr vor den Mund genommen. Ankara will die Visafreiheit und droht mit einem Ende des Flüchtlingspakts. Über ein Land ist die Türkei besonders erbost.

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"Dieses Jahr ist die reinste Katastrophe"
Vor der Wassersportanlage an der türkischen Riviera dümpeln zwei Jetski und Motorboote im türkisblauen Wasser. Die Leere hat sich manch ein Tourist vielleicht schon mal gewünscht, der sich bei 32 Grad mitten in der Hochsaison ein Plätzchen auf der Liege neben Hunderten anderen sichern musste. Verlassene Strände sind in diesem Jahr traurige Wirklichkeit in der Türkei. Das Land kommt nicht zur Ruhe: Auf Terroranschläge folgte ein Putschversuch – und nun auch noch der Ausnahmezustand. Pralle Sonne, stahlblauer Himmel, funkelndes Meer und gewaltige Berge: Weder die perfekte Urlaubskulisse noch die günstigen Preise oder der gute Service in den Hotels am Mittelmeer können so viele Touristen nach Antalya locken wie in den vergangenen Jahren. Quelle: dpa
Mehmet Tekerek am türkischen Strand Quelle: dpa
Konyaalti Quelle: dpa
Nur wenige Menschen bevölkern den Strand Konyaalti in Antalya. Quelle: dpa
Die Konsequenz dieser Unsicherheit lässt sich an der Statistik ablesen. Laut dem türkischen Tourismus-Ministerium ist die Zahl der Besucher, die im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat ins Land kamen, um knapp 22,9 Prozent gesunken. Betrachtet man die Region Antalya, wo die Menschen hauptsächlich vom Tourismus leben, sind die Zahlen noch dramatischer. Quelle: dpa
Turkish-Airlines-Maschine im Anflug auf Antalya Quelle: REUTERS
Der weltgrößte Reisekonzern Tui schätzt derweil, dass er in diesem Jahr mit einer Million Urlaubern nur rund halb so viele Gäste in die Türkei bringt wie 2015. Die Buchungen liegen bis jetzt 40 Prozent niedriger als im Vorjahr, nur das Last-Minute-Geschäft birgt noch Hoffnung. Quelle: dpa

Das harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen ihre Gegner nach dem Putschversuch reißt immer tiefere Gräben zu Europa auf. In einer gereizten Atmosphäre stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag den Flüchtlingspakt zwischen der EU und seinem Land infrage und forderte ultimativ die versprochene Visumfreiheit für Türken. Die Antwort kam prompt: „In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ähnlich äußerte sich auch CDU-Vize Thomas Strobl. „So haben Staaten nicht miteinander umzugehen“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Dienstagsausgabe).

Gleichzeitig verschärften sich die Spannungen mit Deutschland. Ankara ist besonders über Berlin erbost. Am Montag wurde der deutsche Gesandte Robert Dölger ins Außenministerium einbestellt - aus Protest dagegen, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende nicht per Videoschalte zu seinen Anhängern in Köln sprechen durfte. Dölger sei dargelegt worden, ein solches Verhalten eines „Verbündeten“ sei „inakzeptabel“. Die „Enttäuschung und Verärgerung“ der Türkei sei „eindringlich“ zum Ausdruck gebracht worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montagabend weiter.

Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok warf dem türkischen Präsidenten deshalb fehlendes Verständnis für Rechtsstaatlichkeit vor. Auch Erdogan müsse akzeptieren, dass es in Deutschland Gerichte gebe, die über der Politik stünden, sagte Brok den „Ruhr Nachrichten“.

Große Terroranschläge in Europa

Bei der Kölner Demo hatten am Sonntag bis zu 40.000 Menschen ihre Unterstützung für Erdogan und seine Politik gezeigt. Die EU und die Bundesregierung sind dagegen besorgt über die Entlassung von Zehntausenden Staatsbediensteten und die Festnahme von fast 19.000 mutmaßlichen Regierungskritikern in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch vor gut zwei Wochen. Aus Furcht vor einem Überschwappen des innertürkischen Konflikts wurde die Übertragung von Erdogans Rede nach Köln letztlich vom Bundesverfassungsgericht verboten.

Schwerwiegender könnte der neue Streit über das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der Europäischen Union vom März sein. Darin hatte Ankara versprochen, illegal nach Griechenland übergesetzte Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug sagte die EU Finanzhilfen zu und stellte unter anderem die Visumfreiheit für Türken in Aussicht. Außenminister Cavusoglu hatte gesagt, seine Regierung erwarte einen konkreten Termin: „Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein - aber wir erwarten ein festes Datum“. Und hinzugefügt: „Wenn es nicht zu einer Visa-Liberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen.“

Das wiederum kam in Brüssel und auch in Berlin als Drohung an - und führte umgehend zu deutlichen Repliken. Die Bundesregierung betonte, man werde über einen konkreten Zeitpunkt für die Visumfreiheit erst sprechen, wenn Ankara alle Voraussetzungen erfüllt habe. Die EU-Kommission vertritt dieselbe Linie. Einer der wichtigsten Punkte ist die Entschärfung der türkischen Anti-Terrorgesetze, die nicht mehr gegen Oppositionelle und Journalisten angewandt werden sollen. Das aber erschien angesichts der Lage nach dem Putschversuch in der Türkei unwahrscheinlich.

Nach Angaben der griechischen Regierung hielt die Türkei bisher das Flüchtlingsabkommen noch ein. Allerdings nehme sie zurzeit keine Flüchtlinge mehr zurück. Nach dem Putsch seien seit dem 21. Juli alle türkischen Beamten aus Griechenland abgezogen worden, sagte der Deutschen Presse-Agentur ein Offizier der Küstenwache. Diese türkischen Regierungsvertreter entscheiden, wann und wie viele Migranten in die Türkei zurückgeschickt werden.

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