Genau vor einer Woche kündigte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ihre harte Linie im Fall Google an. Statt wie ihr Vorgänger Joaquín Almunia einen Vergleich zu suchen, verschärfte sie das laufende Wettbewerbsverfahren und steuert auf hohe Strafen zu. Im Fall von Gazprom geht sie nun genauso vor. Am heutigen Mittwoch verschärfte sie das seit 2012 laufende Wettbewerbsverfahren, indem sie Gazprom die konkreten Beschwerdepunkte zustellte. Almunia hatte mit dem Unternehmen ebenfalls über einen Vergleich verhandelt.
Sorgt der Fall Google schon für transatlantische Verstimmung auf der politischen Ebene, so ist Gazprom erst recht dafür prädestiniert, das Klima zwischen Brüssel und Moskau zu belasten. Seit Beginn der Ukraine-Krise im vergangenen Jahr hatte die Kommission den Fall Gazprom mehr oder weniger auf Eis gelegt, um eine politische Provokation zu vermeiden. Russland sieht das Wettbewerbsverfahren eindeutig als politische Waffe.
Nun schreitet Vestager beherzt voran und versucht das Verfahren zu entpolitisieren – soweit das irgendwie möglich ist. Sie sagt ausdrücklich: „Wir haben kein Problem mit Ländern, uns geht es um das Verhalten von Betrieben.“ Wenn diese europäische Wettbewerbsregeln nicht einhalten, will sie einschreiten, unabhängig vom Herkunftsland. Sie argumentiert, dass sie im Interesse von Konsumenten handelt: „Verbraucher verlassen sich auf uns, damit wir sicherstellen, dass Wettbewerb gerecht und offen stattfindet. Es ist meine Aufgabe das sicherzustellen.“
Vestager unterstrich am Mittwoch auch, dass die EU-Kommission ähnlich gelagerte Fälle untersuche, etwa gegen die staatseigene Bulgarian Energie Holding. Sie gestand indes ein, dass viele Beobachter den Fall Gazprom als politisch einstuften.
Das Unternehmen bezeichnete die Vorwürfe aus Brüssel am Mittwoch als „unbegründet. Gazprom-Chef Alexey Miller hat jedoch verstanden, dass er es mit einer entschlossenen Gegnerin zu tun hat. Vergangene Woche schlug er in Berlin versöhnliche Töne an. „Gazprom ist bereit, mit der Europäischen Kommission zusammenzuarbeiten“, unterstrich er. „Wir werden die Regeln des Europäischen Markts einhalten.“ Beobachter sehen darin die Bereitschaft der Russen, weiter über einen Vergleich verhandeln zu wollen – womit Brüssel den Energiemulti aus dem Osten allerdings brüsk abblitzen ließ.
Ein herber Schlag für den russischen Energieriesen
Konkret wirft die Wettbewerbskommissarin Gazprom vor, seine dominante Stellung im europäischen Gasmarkt auszunutzen. Ihre Beamte haben festgesellt, dass Gazprom in acht Mitgliedsstaaten (Bulgarien, der Tschechischen Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen und der Slowakei) den Kunden territoriale Beschränkungen aufzwingt, so dass geliefertes Gas nicht ausgeführt werden darf. Außerdem hat die EU-Kommission Beweise, dass Gazprom in Bulgarien, Estland, Lettland und Polen eine unlautere Preispolitik betreibe. Teilweise sei das Problem, dass diese sehr hohen Preise an den Ölpreis gekoppelt seien. Gazprom ist der marktbeherrschende Erdgaslieferant in allen mittel- und osteuropäischen Ländern. In den meisten dieser Länder liegt der Marktanteil nach Angaben der EU-Kommission bei weit über 50 Prozent.
Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas und Öl
Deutschland kann aus eigenen Quellen gut zehn Prozent seines Bedarfs decken. Der Rest wird überwiegend aus Norwegen (gut ein Viertel) und den Niederlanden (knapp ein Fünftel) geliefert. In unterirdischen Speichern wird im Regelfall der Bedarf für mindestens zwei Monate vorgehalten. Russland ist somit größter Lieferant beider Brennstoffe für Deutschland. Beim Gas bezieht auch die EU insgesamt rund ein Viertel ihres Verbrauchs aus Russland.
Die Hälfte des russischen Gases nimmt den Weg über die Ukraine. Da beide Länder schon häufig über Preise, Transitgebühren und Lieferungen stritten und zeitweise die Versorgung unterbrochen war, wurden in Europa Alternativen gesucht. So wurde die Pipeline Nord Stream, die von Russland über den Ostseegrund direkt nach Deutschland führt, gebaut. Sie ist nicht ausgelastet und könnte weiteres Gas aufnehmen, sollte über die Ukraine nicht mehr geliefert werden. Daneben strömt ein großer Teil des Brennstoffes auch über die Jamal-Pipeline über Weißrussland und Polen nach Deutschland.
Ein weiterer Weg wäre der Import von flüssigem Erdgas etwa aus dem Nahen Osten über Tanker nach Deutschland. In der Bundesrepublik gibt es aber kein Terminal zum Entladen. Auch eine Einfuhr etwa über Rotterdam spielt kaum eine Rolle.
Gas wird in Deutschland zum Heizen, für die Industrie und die Stromherstellung gebraucht. Letztere hat im Zuge der Energiewende an Bedeutung verloren, da die Kraftwerke durch Ökostrom-Anlagen verdrängt werden.
Daran ändert auch der Druck auf die Gaspreise weltweit nichts. Zwar steigt der Energiehunger in China und Indien. Auf der anderen Seite aber hat der Boom der Schiefergas-Gewinnung, dem sogenannten Fracking, die USA von Importen unabhängig gemacht. Das Land will nun sogar Gas ausführen. Auch die Ukraine wollte das Potenzial von Schiefergas nutzen und sich unabhängiger von Russland machen. Das erste Projekt zur Schiefergasförderung wurde Anfang 2013 zwischen der ukrainischen Regierung, dem Konzern Royal Dutch Shell und dem ukrainischen Partner Nadra geschlossen. Es geht um eine Fläche von der Größe des Saarlands. Der russische Gasmonopolist Gazprom hatte sich angesichts der Fracking-Konkurrenz zuletzt verstärkt bemüht, den Absatz nach Westeuropa zu sichern.
Russland ist auch Deutschlands größter Öllieferant. An Position zwei und drei liegen Großbritannien und Norwegen mit jeweils um die zehn Prozent. Auch Libyen, Nigeria und Kasachstan spielen ein Rolle. Gespeichert wird in Deutschland Öl für den Bedarf von mindestens 90 Tagen.
Der größte Teil des russischen Öls kommt über die Pipeline Druschba (Freundschaft) über Weißrussland und Polen ins brandenburgische Schwedt. Ein zweite Leitung führt über das Gebiet der Ukraine.
Öl wird als Treibstoff, für die Chemie, aber auch in vielen anderen Grundstoff-Industrien benötigt. Auch als Heizöl wird es in Deutschland oft eingesetzt. Der Preis ist nach jahrelangem Anstieg auf dem Weltmarkt etwas zurückgegangen. Die EU und Deutschland versuchen sich über den Einsatz von Biokraftstoffen und Elektroautos langfristig unabhängiger von Erdöl zu machen. Die Abhängigkeit bleibt aber für die kommenden Jahrzehnte hoch.
Gazprom hat nun zwölf Wochen Zeit, um auf die Vorwürfe zu reagieren. Theoretisch ist ein Vergleich immer noch möglich, aber durch die Verschärfung des Verfahrens eher unwahrscheinlich. Sollte die EU-Kommission zu dem Ergebnis kommen, dass ein Verstoß gegen Wettbewerbsrecht vorliegt, kann sie eine Strafe von zehn Prozent des Umsatzes erlassen. Das wäre ein herber Schlag für den russischen Energieriesen, dessen Gewinn im vergangenen Jahr vor allem wegen des niedrigen Rubelkurses und der günstigen Rohstoffpreise um 70 Prozent eingebrochen war.
Im Februar hatte die EU-Kommission das Projekt Energie-Union vorgelegt, mit dem die 28 Mitgliedstaaten unabhängiger von Energieimporten werden sollen. Obwohl nicht explizit erwähnt, zielt dies auf Russland ab. Führende Energieexperten wie der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger bremsen aber die Erwartungen, dass sich die Europäer in nennenswertem Umfang von Gasimporten aus Russland abkoppeln können. „Es wird bei einer gegenseitigen Abhängigkeit bleiben“, so Pflüger.
Allerdings bemüht sich Moskau seinerseits, die Abhängigkeit von Rohstoff-Exporten in die Europäische Union zu reduzieren: Gazprom hat mit China Verträge über Gaslieferungen abgeschlossen, die zwar vorerst wenig lukrativ, aber sehr umfangreich sind. Allerdings müssen für geschätzte 55 Milliarden Euro zunächst Pipelines durch Sibirien gebaut und neue Gasfelder erschlossen werden. Letztere werden technisch nicht mit den für Europa bestimmten Vorkommen verbunden sein. Somit tun sich beide Seiten schwer mit ihren krampfhaften Versuchen, sich strategisch unabhängiger vom jeweiligen „Partner“ zu machen.