Es ist ein Lichtblick im angeschlagenen deutsch-türkischen Verhältnis. Allerdings ziemlich teuer erkauft.
Erst verabschiedet der Bundestag eine Resolution, in der das gewaltsame Vorgehen des Osmanischen Reichs gegen die Armenier vor mehr als 100 Jahren als Völkermord verurteilt wird. Die Kanzlerin unterstützt das, wenn auch halbherzig. Ankara kocht und verbietet deutschen Abgeordneten, die in Incirlik am internationalen Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat beteiligten Bundeswehrsoldaten zu besuchen. Berlin ist empört.
Schließlich betont Angela Merkel kurz vor dem G20-Gipfel in China, die Resolution sei rechtlich gar nicht bindend. Und kann in Hangzhou nach einem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyio Erdogan verkünden: „Ich glaube, dass es in den nächsten Tagen die Möglichkeit geben wird, dass wir positive Nachrichten bezüglich dieser berechtigten (Besuchs-)Forderungen erhalten werden.“
Es wird zu den konkreteren Ergebnissen für Merkel bei diesem Treffen der Staats- und Regierungschefs der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern und der EU zählen. In Deutschland aber muss sie Kritik für das Lavieren einstecken. Denn mit der Klarstellung, dass die Resolution für die Regierung völlig unverbindlich ist, habe sie einen Kotau vor Erdogan gemacht, heißt es. Auch wenn Merkel sich inhaltlich gar nicht distanziert habe. Ankara sieht das aber so. Das ist entscheidend.
Und noch einen Fortschritt deutet Merkel an: Auch im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei könnte es eine Annäherung geben. Hier geht es um das Verlangen Ankaras nach Visafreiheit quasi im Tausch für die EU-Forderung nach einer Änderung der umstrittenen türkischen Anti-Terrorgesetze. Das werde allerdings wohl noch etliche Wochen dauern, sagt Merkel. Eine Botschaft ist damit aber gesetzt: Deutschland und die EU wollen sich mit dem Nato-Partner und „Flüchtlingshelfer“ Türkei nicht überwerfen.
Genau 37 Tage hatte sich nach dem erfolglosen Putschversuch von Militärs im Juli in der Türkei kein EU-Außenminister in Ankara blicken lassen, um der in Europa weithin kritisierten, aber dennoch demokratisch gewählten Regierung Solidarität zu signalisieren. Dann kam: Der oberste Diplomat Litauens - ein Staat, der anders als etwa Deutschland nicht zu den wichtigeren Partnern der Türkei gehört. Merkel hatte zweimal mit Erdogan telefoniert, hat ihn aber erst jetzt wieder persönlich getroffen. An dem Wochenende des Putsches war sie in der Mongolei. Sie hat Erdogan auch jetzt abermals versichert, dass ein Putsch nicht zum deutschen Demokratieverständnis gehört.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Die Verurteilungen des Putschversuches klangen aber eher einsilbig und waren immer gekoppelt mit ausführlichen Ermahnungen an Erdogan, verhältnismäßig vorzugehen. Dass letzteres nicht ohne Grund war, zeigen die Massenfestnahmen und Suspendierungen der vergangenen Wochen. Der türkische EU-Minister Ömer Celik machte bei der deutschen Reaktion allerdings ein krasses Missverhältnis aus: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) räumte am Samstag beim Treffen mit seinen EU-Kollegen in Bratislava etwas umständlich ein: „Vielleicht müssen wir (...) selbstkritisch zugeben, dass die Empathie und die Emotionalität dieser Anteilnahme und dieser Solidaritätsbekundung nicht in der notwendigen Form, nicht in der notwendigen Intensität, in der Türkei angekommen ist.“
Besonders krumm nehmen der EU nicht nur Erdogan-Anhänger in der Türkei, dass lange Zeit niemand vorbeikam, um Unterstützung zu zeigen - und um sich etwa in dem von Putschisten bombardierten Parlament ein eigenes Bild zu machen. „Unglücklicherweise sehen wir, dass sie den Ernst des Putschversuches nicht verstanden haben oder dass sie nicht verstehen wollten“, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu mit Blick auf die EU-Staaten.
Steinmeier plant nun noch für September einen Besuch in der Türkei, inzwischen sind gut sieben Wochen seit dem Putschversuch mit mehr als 260 Toten vergangen.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, ein ausgesprochener Kritiker Erdogans, kam als erster Spitzenvertreter der EU am vergangenen Donnerstag nach Ankara. Das Treffen des deutschen SPD-Politikers mit Erdogan dauerte eineinhalb Stunden und damit deutlich länger als geplant. Es soll freundlich verlaufen sein. Wie das Gespräch zwischen Merkel und Erdogan am Sonntag: Eine Stunde und konstruktiv.
Noch vor Schulz hatte es der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok, nach Ankara geschafft. Der CDU-Politiker räumte ein: „Es ist so, dass die Türkei, das ist mir dort erst sehr klar geworden, einen offensichtlichen Schock erlitten hat.“ Und der Ausschussvorsitzende hat von seiner Reise einen Ratschlag mitgebracht, um die Eskalation der Spannungen mit Ankara zu stoppen: „Ich bin übrigens der Auffassung, dass wir abrüsten sollten, was die Rhetorik angeht, und dass auch die Türken abrüsten sollten.“ So geschehen am Sonntag auf neutralem Boden. In China.