Rückblickend kann dieser 25. Mai 2014 ein historischer Tag für die politische Landschaft in Deutschland werden. Denn an diesem Wahltag hat sich mehr gewandelt, als die beiden noch dominierenden Parteien CDU/CSU und SPD Glauben machen wollen. Eine neue Partei etabliert sich, ein Traditionsverein kämpft immer verzweifelter ums Überleben, die Zahl der Europaskeptiker schnellt nach oben.
Einerseits ist es richtig, wenn die etablierten Parteien feststellen, dass die große Mehrheit der Deutschen „pro-europäisch“ gewählt habe. Wobei die Spitzenkräfte der Alternative für Deutschland (AfD) sich vermutlich dabei mitzählen würden. Aber lässt man sich auf die Unterscheidung ein pro-europäisch und Euro(pa)-kritisch ein, so ist zu konstatieren: Die Zahl der Skeptiker hat sich nahezu verdoppelt. Denn es ist ja nicht nur die AfD, die den bisherigen Einheitskurs Richtung Brüssel bekämpft. Ganz ähnlich argumentieren in die vielen Punkten die Freien Wähler. Auch die Linkspartei will eine andere EU – in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der Sozial-, Außen- und Sicherheitspolitik. Zählt man auch die Rechtsextremen NPD und Republikaner hinzu, macht das Lager der Europa-Kritiker inzwischen 17 Prozent aus; mithin jeden sechsten deutschen Wähler.
Für die AfD ist die Lage nach dem souveränen Einzug in das Europaparlament günstig. Denn nun kommen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland, wo die Alternative schon bei der Bundestagswahl überdurchschnittlich abgeschnitten hatte. Auch diesmal war sie in Sachsen und Thüringen besonders stark. Gelingt es ihr, auch in drei Landtage einzuziehen, hat sie beste Chancen, sich dauerhaft zu etablieren. Allerdings darf sie dafür nicht den Fehler machen, sich in der alltäglichen Parlaments- und Parteiarbeit zu zerstreiten und zu blamieren, wie es den Piraten passiert ist, dem letzten Senkrechtsstarter und –abstürzer des deutschen Parteiensystems. Die AfD ist mehr als eine Protestpartei, zu der sie in der ARD Jörg Schönenborn machen wollte. Zwar zeigen die Umfragen, dass nur rund ein Drittel ihrer Wähler der AfD die Stimme wegen deren Positionen geben.
Die Glaubwürdigkeit etablierter Parteien ist lädiert
Die Mehrheit findet, die AfD habe „zwar keine Lösung, stelle aber wenigstens die richtigen Fragen“. Das ist mehr, als den etablierten Parteien eins auswischen zu wollen. Denn offensichtlich vermissen diese Menschen schon die Behandlung mancher Themen durch die Politik. Genüsslich wies AfD-Gründer Lucke darauf hin, dass die rechtsextremen Parteien NPD und Republikaner gemeinsam fast aufs Zehntel genau so viele Anteile erhalten haben wie vor fünf Jahren. Da die AfD von allen anderen Parteien Wähler herüberziehen konnte, müsse es sich wohl „um Rechtspopulisten von anderen Parteien“ handeln, gab er die Verdächtigungen der Konkurrenz bissig zurück. Entscheidend für den Wahlerfolg der Alternative war freilich, dass sie Nichtwähler mobilisieren konnte, die in der Vergangenheit kein passendes Angebot für sich gefunden hatten. Auch das spricht gegen die simple These der Protestpartei, denn Protestventile standen bei jeder Wahl in ausreichender Zahl zur Verfügung – von der Linken über die Piraten bis zu extremistischen Parteien jeglicher Couleur.
Dass die lädierte Glaubwürdigkeit der etablierten Parteien nicht mehr ausreicht, diese Bürger mit ein paar Placebos zu beruhigen, zeigt das Schicksal der CSU. Zwar hatte sie sich bemüht, etwas mehr europakritische Töne in ihre Wahlfanfaren hineinzukomponieren. Parteichef Horst Seehofer hatte eigens den kampferprobten Eurokritiker Peter Gauweiler als stellvertretenden Vorsitzenden ins Schaufenster gestellt, um den AfD-Anhängern eine Köder zu bieten. Funktioniert hat es nicht, die CSU schnitt deutlich schlechter ab als in der Vergangenheit.
Das Europawahl-Programm der Parteien
Die CDU setzt mit dem früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister als deutschem Spitzenkandidaten den Schwerpunkt auf Wirtschaft und Finanzen. Sie will den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM und das Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“ erhalten. Eine Vergemeinschaftung der Schulden wird weiter abgelehnt. „Armutswanderung“ in soziale Sicherungssysteme soll verhindert werden. Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen soll abgebaut und mehr Bürgernähe durch eine Vereinfachung der EU-Gesetzgebung geschaffen werden. Eine Vollmitgliedschaft der Türkei wird abgelehnt.
Die CSU übt inhaltlich wie personell den Spagat zwischen Anti-Brüssel-Propaganda und Bekenntnissen zu Europa: CSU-Vize Peter Gauweiler bedient die Europagegner und soll die AfD neutralisieren, der offizielle Spitzenkandidat Markus Ferber steht für die proeuropäische Seite. Forderungen sind die Rückgabe nationaler Kompetenzen, Bürokratieabbau, die Verkleinerung der Kommission und die Einführung von Volksentscheiden in Deutschland über wichtige Europafragen.
Bei der SPD gibt es mit dem Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz einen zugkräftigen Spitzenmann, er ist auch der europaweite Kandidat der Sozialdemokraten und soll EU-Kommissionspräsident werden. Rechts- wie Linkspopulisten sagt die SPD den Kampf an. Wichtige Ziele sind: strengere Haftungsregeln für Banken, Trennung von Investment- und Geschäftsbankensystem und ein „Finanz-Check“ für alle neuen Finanzprodukte; Entzug der Banklizenz bei Hilfe zum Steuerbetrug; europaweite Mindestlöhne; weniger Bürokratie, mehr Mitsprache und mehr Macht für das Europaparlament.
Die Linke spricht sich für eine grundlegende Neuausrichtung der EU aus. „Europa geht anders. Sozial, friedlich, demokratisch“, heißt ihr Programm. „Wir wollen einen Politikwechsel, damit die EU nicht vornehmlich Eliten an Reichtum und Macht ein Zuhause bietet, sondern sich solidarisch für alle entwickelt.“ Konkret fordert die Partei Mindestlöhne und -renten in der gesamten EU, eine Neuausrichtung der Währungsunion, die Vergesellschaftung privater Großbanken, ein Verbot von Rüstungsexporten sowie die Auflösung der Nato.
Die Grünen stellen den Klima- und Verbraucherschutz, mehr Datensicherheit und Bürgerrechte in den Mittelpunkt. Antieuropäischen Populismus von Rechts und Links konfrontieren sie mit dem „Ziel eines besseren Europas“. Sie wollen die EU weiterentwickeln und die Erweiterungspolitik der EU fortsetzen. Sie wollen ein Europa der erneuerbaren Energien. Der Atomausstieg soll in der gesamten EU vorangetrieben werden. Lebensmittel sollen frei von Gentechnik und Antibiotika sein. EU-weit verpflichtende Herkunftsangaben sollen dabei Transparenz schaffen.
Die FDP will nach dem bitteren Abschied aus dem Bundestag ein kleines Comeback schaffen. In den Umfragen bewegt sich bei den Liberalen aber bislang nichts. Sollte die AfD besser abschneiden, hätte Parteichef Christian Lindner ein Problem. Von einer Schicksalswahl will er aber nichts wissen. Der Hauptgegner sei Schwarz-Rot, nicht die AfD. Inhaltlich tritt die FDP für mehr Bürgerrechte ein, die Vorratsdatenspeicherung soll verhindert werden. Beim Euro soll der Rettungsschirm ESM schrittweise reduziert, zudem ein Austrittsmechanismus für Euro-Länder geschaffen werden.
Die Alternative für Deutschland setzt mit ihrem Slogan „Mut zu D EU tschland“ ein klares Zeichen. Erst geht es um Deutschland, dann um Europa. Ein Austritt aus dem Euro wird für die Krisenländer Südeuropas gefordert. Neue EU-Mitglieder soll es nicht geben, Kompetenzen sollen auf die nationale Ebene zurückverlagert werden. Neben Parteichef Bernd Lucke auf Listenplatz eins soll der frühere Industriepräsident Hans-Olaf Henkel der Partei ein Gesicht geben. Eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen lehnt die AfD ab.
Genau umgekehrt läuft es für die FDP. Sie kommt trotz allen Strampelns nicht aus dem Drei-Prozent-Ghetto. Die Gefahr für sie: Sollte es sich AfD schaffen, sich als Koalitionspartner für die Union zu positionieren, entfiele einer der entscheidenden Gründe, die in der Vergangenheit den Liberalen oft das Überleben über der Fünf-Prozent-Hürde gesichert hat: das Funktionsargument. Wenn sie als bürgerliche Mehrheitsbeschafferin nicht mehr gebraucht würde, würde es eng.
Union muss sich ihren Kurs überlegen
Schon bietet der frisch gewählte AfD-Europaabgeordnete Joachim Starbatty, emeritierter Ökonomie-Professor aus Tübingen, der Union eine Zusammenarbeit an. Er frage seine früheren Parteifreunde von der CDU immer: „Was macht Ihr denn? Wir sind doch Euer künftiger Koalitionspartner. Ihr könnt doch unsere bürgerlichen Stimmen nicht einfach liegen lassen.“ Die aktuelle Stärke – oder treffender: Schwäche- der FDP zeigt sich mit diesem Wahlergebnis. Hier ging es um keine Macht- und Gestaltungsperspektive, es gab noch nicht einmal eine magische Fünf- oder Drei-Prozent-Hürde, die es fürs Überleben zu überwinden galt. Diesmal musste wirklich nur liberal wählen, wer inhaltlich von der FDP überzeugt ist. Und das sind eben derzeit nicht mehr als drei Prozent der Wähler.
Die Union muss sich angesichts des Wahlergebnisses überlegen, ob sie ihren Kurs unbeirrt weiterfahren will. Angela Merkel zu plakatieren, die gar nicht zur Wahl stand, hat wegen des schwachen Abschneidens der CSU nicht gereicht. Erstmals gibt es eine demokratisch legitimierte konservative Partei neben der Union. Glaubwürdig war es nicht, gegen Eurobonds zu plädieren, wenn der eigene Spitzenkandidat Jean Claude Juncker dafür ist. Oder nun plötzlich Zuständigkeiten aus Brüssel zurückholen zu wollen, nachdem man in der Vergangenheit fast jede Machtausweitung der EU-Kommission anstandslos hat geschehen lassen.
Einfacher wird es in der großen Koalition auch deshalb nicht, weil die SPD erstmals wieder einen Hoffnungsschimmer verzeichnen kann.
Wichtiger als das deutliche Plus, das auch dem historischen Tiefpunkt vor vier Jahren geschuldet ist, ist für die Sozialdemokraten, dass sie wieder näher an die 30-Prozent-Marke heran gekommen sind, die sie bei den vergangenen bundesweiten Wahlen stets nur aus der Ferne sehen konnten. Den Genossen vermittelt es das gute Gefühl, dass die sozialdemokratische Politik der Bundesregierung nun endlich auch mal auf ihr Konto einzahlt. Denn in den Umfragen seit der Bundestagswahl hatte das aktive Auftreten der SPD-Minister – gerade im Vergleich zum Zeitlupenstart der Unionskollegen – für keinerlei Bewegung gesorgt.
Selbstbewusste Anhänger sind aber stets ein wesentlicher Faktor für den nächsten Wahlkampf.