Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld "Europa ist eine kopflose Weltmacht"

Die Europäische Union verschleudert ihr Potenzial, kritisiert der angesehene Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. Vor allem Deutschland müsse endlich aktiver werden und Führung übernehmen.

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Europa schöpft sein Potenzial nicht aus. Der Grund: Keines der großen Mitgliedsländer der EU will Verantwortung übernehmen, kritisiert Werner Weidenfeld. Quelle: Marcel Stahn

Herr Weidenfeld, Europa kommt nicht aus dem Krisenmodus: Erst die Euro-Sorgen, nun der Ukraine-Konflikt. Warum gelingt der EU kein Befreiungsschlag?

Werner Weidenfeld: Europa hat ein Führungsdefizit. Es gibt – anders als zu Zeiten von François Mitterrand, Jacques Delors und Helmut Kohl – keine Politiker, die führen. Weil sie nicht können oder nicht wollen. Das Ergebnis ist: Wir rennen den Entwicklungen hinterher. Die Politik richtet erst dann die Aufmerksamkeit auf Politikfelder oder Länder, wenn es kracht. Das ist zu spät.

Was kritisieren Sie konkret? Der Ukraine-Konflikt war doch wohl kaum vorhersehbar.

Dass Russland seiner früheren Größe hinterhertrauert, hätte man durchaus schon früher erkennen können. Wir hätten schon vor zehn Jahren versuchen können, die innere Sichtweise des Kreml zu verstehen. Dann hätte man viel Zeit gehabt, gemeinsam an einer Strategie zum Umgang mit Moskau zu arbeiten. Das ist nicht geschehen. Die Europäische Union hätte sich auch schon früher mit den innerkulturellen Konflikten in der Ukraine befassen können, nein, müssen – zumal die Union ja offensiv auf das Land zugegangen ist und eine Vertiefung der Beziehungen angeboten hat. Wäre Europa besser vorbereitet gewesen, müsste die Staatengemeinschaft nun nicht erst groß diskutieren, sondern könnte handeln.

Geplante neue EU-Sanktionen gegen Russland

Hat vor allem Deutschland, als wirtschaftliches und politisches Schwergewicht in der Europäischen Union, verpasst, diese Diskussion frühzeitig anzustoßen?

Ja. Und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die Erwartung von außen. Die anderen Mitgliedsländer der EU rechnen mit einer gewissen Führung aus Berlin. Es geht nicht darum, dass die Bundesregierung alleine die Richtung vorgibt, auch Frankreich und seit der EU-Osterweiterung auch Polen sind in der Pflicht. Aber es wird schon erwartet, dass Deutschland vor allen anderen diese Führungsrolle annimmt und ausfüllt.

Zur Person

Sind Sie sicher, dass deutsche Führung erwartet wird? Gerade in der Wirtschafts- und Geldpolitik nimmt Deutschland doch eine Position ein, die von der Mehrheit der EU-Staaten nicht geteilt wird.

Es geht im ersten Schritt nicht darum, welche Position vertreten wird und ob die eigene Haltung mehrheitsfähig ist. Zu führen bedeutet, eine Debatte anzustoßen, so dass gemeinsam an einer Position gearbeitet werden kann. In diesem Prozess gilt es dann die eigene Meinung herauszuarbeiten und zu erklären – und die Deutungshoheit zu erlangen. Das erfordert viel Kraft, Zeit und Energie und auch Intellekt der führenden Köpfe der Bundesregierung.

Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld im Interview mit WirtschaftsWoche Online.

Man kann nicht gerade sagen, dass es zuletzt eine deutsche Stärke gewesen ist, die Meinungshoheit zu erlangen, da haben Sie Recht. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Wenn die Bundesrepublik die Muskeln spielen lässt und meint, die anderen Nationen sollten nach ihrer Pfeife tanzen, löst das natürlich eine gewisse Zurückhaltung aus. Aber im Normalfall wird Führungsleistung von Berlin erwartet, auch in strittigen Fragen.

Sie haben vorhin angedeutet, dass auch Frankreich eine Kraft ist, die führen kann. Ist das Land dazu derzeit in der Lange – bei all den wirtschaftlichen und innenpolitischen Problemen?

Für Frankreich ist es sicher derzeit noch schwerer, die Kraft aufzubringen, um Führung zu übernehmen. Noch einmal: Das ist eine anspruchsvolle und ressourcenintensive Aufgabe. Gleichzeitig bietet die Außenpolitik aber auch eine Chance, den Ruf zu polieren. Gerade wenn ein Land innenpolitisch nicht rosig dasteht, hilft es oftmals, auch bei den Wählern im eigenen Land, außenpolitisches Geschick zu zeigen. Bestes Beispiel ist der französische Militäreinsatz in Mali. Die Regierung hat Tatkraft – so jedenfalls das Bild im Inland – bewiesen und unterstrichen, dass das Land Gewicht in der Welt hat.

"Das Potenzial Europas ist enorm"

Auf welchen Feldern braucht Europa derzeit am dringendsten Führung?

Wenn die leidigen Personalfragen um die Besetzung der neuen EU-Kommission durch sind, dann gibt es in Europa zwei Megathemen. Zum einen müssen wir uns fragen, wie wir Einfluss auf die Konflikte und Kriege in der Welt nehmen können. Denn klar ist: Europa hat eine weltpolitische Mitverantwortung. Und kein Staat, weder die Konfliktparteien, noch die Bündnispartner, fragen die Position eines einzelnen EU-Landes ab. Sondern die Frage „Wo steht ihr?“ bezieht sich immer auf ganz Europa. Dort muss es Brüssel endlich schaffen, einen kompetenten Ansprechpartner zu installieren.

Und das zweite große Thema ist die Verwirklichung der politischen Union, um die Euro-Krise nachhaltig in den Griff zu bekommen.

Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten

Haben Europas Staats- und Regierungschefs die Legitimation der Bürger, noch mehr Rechte nach Brüssel zu verlagern?

Das ist sicherlich eine große Hürde. Diese Frage wird uns in den kommenden Monaten und Jahren begleiten – und alle Akteure, die die Verwirklichung der politischen Union wollen, müssen mehr Kraft investieren und Überzeugungsarbeit leisten. Ein Hauch von Legitimationskultur ist ja durch die Wahl zum Europäischen Parlament aufgekommen, die gleichzeitig eine Wahl zur EU-Kommission war. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht alles sein. Die EU muss transparenter und bürgernäher werden. Wir erleben ein Zeitalter, in dem das Volk souveräner denn je ist und mitsprechen will. Dieser Wunsch wird nicht durch eine distanzierte Institution in Brüssel verkörpert.

Wie realistisch ist es in Ihren Augen, dass die politische Union zeitnah kommt? 

Ich bin da ganz optimistisch, gerade weil wir uns im Krisenmodus befinden. Solange eitel Sonnenschein herrscht, gibt es keinen Drang nach Veränderungen. Die Probleme, die die Euro-Krise offenbart hat, die waren ja fast so erwartet worden. Helmut Kohl sprach 1992 kurz vor der Unterzeichnung der Maastricht-Verträge, die den Euro ermöglichten, davon, dass es „abwegig“ sei, auf eine stabile Währung zu hoffen, sofern es keinen politischen Rahmen gäbe. Alle Fraktionen im Bundestag applaudierten. Trotzdem ist nichts dergleichen in den folgen Jahren passiert. Das Ergebnis kennen wir. Jetzt, durch den Druck der Krise, lässt sich die Vertiefung der Europäischen Union nicht länger aufhalten.

Und noch einmal: Diese Vertiefung der Union lässt sich auch gut begründen, wenn man es denn nur versucht. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht, wenn es endlich vereint wird.

Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter

Achja? Das sehen nicht alle so: Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore erklärte unlängst in einem Interview mit WirtschaftsWoche Online, dass Europa vor einem „historischen Niedergang“ stehe.

Das habe ich schon oft gehört. Zwischen 1973 und 1984 – Stichwort: Eurosklerose – wurde die Europäische Union ja bereits totgesagt. Es hieß, wer Zukunft haben will, müsse nach Asien schauen. Europa sei nur noch interessant für Museumswärter und Archäologen. Aus dieser Krise haben wir uns befreit, Europa hat sich weiterentwickelt: die EU hat sich nach Osten geöffnet, in der Mehrzahl der EU-Länder wurde der Euro eingeführt. Die Anziehungskraft auf die Anrainerstaaten ist nach wie vor enorm hoch, acht Staaten wollen derzeit Mitglieder des Staatenbunds werden. Das Potenzial Europas ist enorm. Europa ist eine Weltmacht – aufgrund der Führungsschwäche aber derzeit eine kopflose Weltmacht. Dennoch: Es gibt gute Gründe, Herrn Gore zu widersprechen und auf die Prognosefähigkeit der Amerikaner zu Europa nicht allzu viel zu geben.

"Großbritannien bleibt in der EU"

Worin liegt denn das – wie Sie sagen – enorme Potenzial der EU?

Europa hat Wirtschafts- und Innovationskraft, Erfindergeist, eine reiche Kultur, demokratische Strukturen, eine spannende Ausstrahlung. Es gibt zig positive Dinge. Die Frage ist, wie wir dieses Potenzial ausschöpfen und organisieren können. Das ist in weiten Teilen noch ungeklärt.

Ausgerechnet eines der größten Mitgliedsländer der EU, Großbritannien, scheint das Potenzial Europas nicht zu erkennen.

Die Zweifel der Briten an Europa begleiten uns seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das gehört auf der Insel schon zum guten Ton, ich erinnere an Winston Churchill und Margaret Thatcher. Ersterer erklärte noch 1946, sein Land werde einem europäischen Bündnis nie beitreten. Thatcher wollte später von Brüssel ihr Geld zurück. Also: Großbritannien hat die Einigungsversuche stets ausgebremst – allerdings ist es immer auf den Zug Europa aufgesprungen, sobald das System funktionierte. Und zwar immer kurz bevor es zu spät war. Das wird auch dieses Mal so sein. Erstaunlicherweise deckt sich diese Erfahrung mit der öffentlichen Meinung. Jahrelang wird gemosert und kritisiert. Wenn aber Konsequenzen drohen, dreht sich der Wind. Auch die Debatte über die Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft der Briten läuft doch gerade erst an. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.

Königliche Geldsorgen

Wie hoch taxieren Sie die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt?

Bei 100 Prozent. 

Wie sieht idealtypisch die Rolle der Europäischen Union in den kommenden Jahren aus? An wessen Seiten stehen wir?

Die Welt wird multipolarer, es gibt nicht mehr nur eine oder zwei Supermächte wie aktuell mit den USA und China. Die Europäische Union wird eine von mehreren Weltmächten sein; neben den USA, China, Indien, Japan, Russland und Australien. In solch einem System werden wir dann je nach Thema und Lage strategische Partnerschaften aufbauen. Wir sind dann mal Partner von China, und mal von Russland, sofern die sich mal wieder gefangen haben.

Diese Länder wollen in die EU
Türkei Quelle: dapd
Serbien Quelle: REUTERS
Albanien Quelle: REUTERS
Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien: Quelle: REUTERS
Montenegro Quelle: REUTERS
Island Quelle: Reuters
Bosnien-Herzegowina: Quelle: REUTERS

Das wäre die Rückkehr der Koalition der Willigen zulasten der USA?

Ich spreche lieber von strategischen Partnerschaften, im Kern ist es aber dasselbe. Ich glaube nicht, dass die USA sonderlich geschockt oder enttäuscht wären. Wir würden ja einfach ihren Stil kopieren. Die US-Amerikaner haben eine klare Vorstellung, was in ihrem Interesse liegt und was nicht. Und danach handeln sie. So deute ich auch die NSA-Affäre – über die sich in Amerika keiner aufregt. Schließlich wird die amerikanische Sicherheit so gewährleistet. Wir Europäer sind da oftmals nicht so klar und kühl gestrickt. Das wird sich aber sicher in einer komplexer werdenden Welt ändern. Die USA werden Bündnispartner nicht vor die Wahl stellen, sondern zusehen, eigene Mehrheiten für ihre Interessen zu schmieden. Wichtig ist ihren nur, dass sie nicht als Verlierer dastehen.

Und wo liegen die Grenzen der Europäischen Union?

Die Grenzen sind dort, wo die Menschen eine Trennlinie wahrnehmen. Derzeit wollen acht weitere Staaten perspektivisch Mitglied der EU werden. Da sind nicht die Länder dabei, die Interesse haben, aber im klassischen Denken nicht in Europa liegen. Ich denke an Kasachstan, ich denke an Georgien. Das heißt nicht, dass sich diese Sicht nicht ändern kann. Schauen Sie in die Geschichte. Im 6. Jahrhundert nach Christi bezeichnete man die griechische Halbinsel als Europa, drumherum lebten die „Barbaren“. Dieses Bild hat sich mit jeder Erkundung gewandelt. Europa hat natürliche Grenzen im Norden, Süden und Westen gefunden – nämlich dort, wo Küsten sind. Im Osten gibt es diese Trennlinien nicht. Folglich hat sich auch die Wahrnehmung, wo Europas Ostgrenze liegt, verschoben. Die große Frage bei der Erweiterung der Europäischen Union wird sein, ob die Türkei je Mitglied wird. Das ist eine offene Kontroverse. Die wird uns noch über Jahre begleiten.

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