Herr Weidenfeld, Europa kommt nicht aus dem Krisenmodus: Erst die Euro-Sorgen, nun der Ukraine-Konflikt. Warum gelingt der EU kein Befreiungsschlag?
Werner Weidenfeld: Europa hat ein Führungsdefizit. Es gibt – anders als zu Zeiten von François Mitterrand, Jacques Delors und Helmut Kohl – keine Politiker, die führen. Weil sie nicht können oder nicht wollen. Das Ergebnis ist: Wir rennen den Entwicklungen hinterher. Die Politik richtet erst dann die Aufmerksamkeit auf Politikfelder oder Länder, wenn es kracht. Das ist zu spät.
Was kritisieren Sie konkret? Der Ukraine-Konflikt war doch wohl kaum vorhersehbar.
Dass Russland seiner früheren Größe hinterhertrauert, hätte man durchaus schon früher erkennen können. Wir hätten schon vor zehn Jahren versuchen können, die innere Sichtweise des Kreml zu verstehen. Dann hätte man viel Zeit gehabt, gemeinsam an einer Strategie zum Umgang mit Moskau zu arbeiten. Das ist nicht geschehen. Die Europäische Union hätte sich auch schon früher mit den innerkulturellen Konflikten in der Ukraine befassen können, nein, müssen – zumal die Union ja offensiv auf das Land zugegangen ist und eine Vertiefung der Beziehungen angeboten hat. Wäre Europa besser vorbereitet gewesen, müsste die Staatengemeinschaft nun nicht erst groß diskutieren, sondern könnte handeln.
Geplante neue EU-Sanktionen gegen Russland
Wenn Firmen und milliardenschwere Oligarchen zur Destabilisierung der Ukraine beitragen, können sie auf eine schwarze Liste kommen.
Von Sanktionen betroffene Unternehmen dürfen keine Geschäfte mit EU-Firmen machen und können nicht mehr über Vermögenswerte in der EU verfügen. Anzahl und Namen der Unternehmen sind aber bisher offen.
Bis Ende Juli soll über eine erste Liste von Unternehmen entschieden werden, für die neuen Sanktionen gelten sollen.
Die Europäische Investitionsbank (EIB) soll die Unterzeichnung neuer Finanzierungsmaßnahmen in Russland aussetzen. Zudem wird die EU-Kommission aufgefordert, die Programme für die Zusammenarbeit mit Russland gegebenenfalls auszusetzen. Projekte aber, die auf die Zivilgesellschaft ausgerichtet seien, sollen aufrechterhalten werden.
Der EU-Gipfel vom 27. Juni hatte Russland aufgefordert, bis zum 30. Juni unter anderem für die Freilassung von OSZE-Geiseln zu sorgen und an Friedensverhandlungen teilzunehmen. Auf ausbleibende Fortschritte reagierte der EU-Ministerrat am 11. Juli mit elf weiteren Einreiseverboten und Kontensperrungen. Zudem wird als ein Grund für die Ausweitung eine mangelhafte Grenzkontrolle genannt.
Die EU und die Ukraine haben am 27. Juni ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen unterzeichnet. Es soll den EU-Markt für die Ukraine öffnen und zugleich demokratische Reformen im Land unterstützen. Außerdem hat die EU eine Zahlungsbilanzhilfe in Höhe von 1,6 Milliarden Euro zugesagt. In den nächsten Jahren sollen auch EU-Hilfsmaßnahmen mit einem Volumen von elf Milliarden Euro greifen.
Hat vor allem Deutschland, als wirtschaftliches und politisches Schwergewicht in der Europäischen Union, verpasst, diese Diskussion frühzeitig anzustoßen?
Ja. Und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die Erwartung von außen. Die anderen Mitgliedsländer der EU rechnen mit einer gewissen Führung aus Berlin. Es geht nicht darum, dass die Bundesregierung alleine die Richtung vorgibt, auch Frankreich und seit der EU-Osterweiterung auch Polen sind in der Pflicht. Aber es wird schon erwartet, dass Deutschland vor allen anderen diese Führungsrolle annimmt und ausfüllt.
Zur Person
Prof. Dr. Dr, h.c. Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) der Ludwig-Maximilians-Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg). Er lehrt als Gastprofessor an der Sorbonne (Paris), an der Remnin-Universität (Peking), an der Hebräischen Universität (Jerusalem) und an der Zeppelin-Universität (Friedrichshafen). Weidenfeld ist Autor von zahlreichen Büchern über die Einigung Europas, deutsche Außenpolitik und Zeitgeschichte.
Sind Sie sicher, dass deutsche Führung erwartet wird? Gerade in der Wirtschafts- und Geldpolitik nimmt Deutschland doch eine Position ein, die von der Mehrheit der EU-Staaten nicht geteilt wird.
Es geht im ersten Schritt nicht darum, welche Position vertreten wird und ob die eigene Haltung mehrheitsfähig ist. Zu führen bedeutet, eine Debatte anzustoßen, so dass gemeinsam an einer Position gearbeitet werden kann. In diesem Prozess gilt es dann die eigene Meinung herauszuarbeiten und zu erklären – und die Deutungshoheit zu erlangen. Das erfordert viel Kraft, Zeit und Energie und auch Intellekt der führenden Köpfe der Bundesregierung.
Man kann nicht gerade sagen, dass es zuletzt eine deutsche Stärke gewesen ist, die Meinungshoheit zu erlangen, da haben Sie Recht. Um aber Ihre Frage zu beantworten: Wenn die Bundesrepublik die Muskeln spielen lässt und meint, die anderen Nationen sollten nach ihrer Pfeife tanzen, löst das natürlich eine gewisse Zurückhaltung aus. Aber im Normalfall wird Führungsleistung von Berlin erwartet, auch in strittigen Fragen.
Sie haben vorhin angedeutet, dass auch Frankreich eine Kraft ist, die führen kann. Ist das Land dazu derzeit in der Lange – bei all den wirtschaftlichen und innenpolitischen Problemen?
Für Frankreich ist es sicher derzeit noch schwerer, die Kraft aufzubringen, um Führung zu übernehmen. Noch einmal: Das ist eine anspruchsvolle und ressourcenintensive Aufgabe. Gleichzeitig bietet die Außenpolitik aber auch eine Chance, den Ruf zu polieren. Gerade wenn ein Land innenpolitisch nicht rosig dasteht, hilft es oftmals, auch bei den Wählern im eigenen Land, außenpolitisches Geschick zu zeigen. Bestes Beispiel ist der französische Militäreinsatz in Mali. Die Regierung hat Tatkraft – so jedenfalls das Bild im Inland – bewiesen und unterstrichen, dass das Land Gewicht in der Welt hat.
"Das Potenzial Europas ist enorm"
Auf welchen Feldern braucht Europa derzeit am dringendsten Führung?
Wenn die leidigen Personalfragen um die Besetzung der neuen EU-Kommission durch sind, dann gibt es in Europa zwei Megathemen. Zum einen müssen wir uns fragen, wie wir Einfluss auf die Konflikte und Kriege in der Welt nehmen können. Denn klar ist: Europa hat eine weltpolitische Mitverantwortung. Und kein Staat, weder die Konfliktparteien, noch die Bündnispartner, fragen die Position eines einzelnen EU-Landes ab. Sondern die Frage „Wo steht ihr?“ bezieht sich immer auf ganz Europa. Dort muss es Brüssel endlich schaffen, einen kompetenten Ansprechpartner zu installieren.
Und das zweite große Thema ist die Verwirklichung der politischen Union, um die Euro-Krise nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Was Manager, Intellektuelle und Geldleute den europäischen Politikern raten
„Zuerst müssen wir anders über Europa denken und reden: über unsere industriellen Kompetenzen, unsere Handwerkskultur, die nachhaltiges Wirtschaften erlaubt, über die Rolle eines starken Europas in einer globalisierten Welt, über Chancen, die es jungen Menschen bietet. Dann müssen wir die Ärmel hochkrempeln, um wieder zu wachsen: durch einen funktionierenden Binnenmarkt, mehr Mobilität, höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, durch Infrastrukturprojekte, einen transatlantischen Wirtschaftsraum – und Strukturreformen. 500 Millionen begeisterte Europäer können die Welt verändern!“
„Wichtig ist, dass sich keine so massiven Ungleichgewichte mehr entwickeln. Die EZB hat mit ihren Operationen Zeit gekauft. Das darf aber nur eine vorübergehende Lösung sein. Die Zentralbank muss sich wieder darauf konzentrieren, was ihre Hauptaufgabe ist: Gewährleistung der Preisstabilität!“
„Europa sollte sich daran erinnern, dass es viel mehr ist als die Europäische Union oder der Euro. Damit es eine Zukunft hat, muss der Kontinent auf seine ureigenen Stärken setzen. Das heißt: mehr Vielfalt, mehr Wettbewerb der Kulturen und Ideen, mehr pragmatische Lösungen; weniger großsprecherische Visionen, politische Zwangskonvergenz und doktrinäre Einheitssuppe aus Brüssel.“
„Das Europa des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr der Nabel der Welt. Wenn wir im Konzert der Kontinente die erste Geige spielen wollen, darf sich Brüssel nicht mehr damit befassen, ob Olivenöl nur in geschlossenen Flaschen oder auch in offenen Karaffen serviert werden darf. Wir brauchen ein geeintes Europa, das seine Stärken in den Welthandel einbringt und durch kooperative Handelspolitik ein Ende der schädlichen Strafzölle und Subventionen einleitet. Wenn es gelingt, die Staatshaushalte zu sanieren und den Euro zu stärken, und wir den europäischen Gedanken weiter denken – mit gemeinsamer Wirtschafts- und Finanzpolitik – stehen uns alle Türen offen.“
„Wer die Krise Europas überwinden will, muss den Bürgern klarmachen, dass und warum es sich lohnt, alle dafür notwendigen Anstrengungen auf sich zu nehmen. Von dieser Überzeugungsarbeit ist wenig zu sehen. Kaum ein Politiker traut sich noch, die einzigartigen Vorteile dieses Zivilisationsmodells zu verteidigen. Angela Merkels Methode, die Deutschen in eine immer höhere Haftung hineinzutricksen und den südeuropäischen Ländern nichts als Hungerkuren zu verordnen, funktioniert offensichtlich nicht. Bei den Deutschen hat diese Politik das (falsche) Gefühl bestärkt, dass sie allein für Europa zahlen und nichts von Europa haben; der jungen Generation in den Schuldenländern bringt sie Massenarbeitslosigkeit und eine Zukunft ohne Hoffnungen. Die Politik der Gipfeltreffen und ständig nachjustierten Beschlüsse hinter verschlossenen Türen ist zu Ende. Wenn das Projekt Europa noch zu retten ist, dann nur durch die Mitwirkung der Bürger, nicht hinter ihrem Rücken.“
Haben Europas Staats- und Regierungschefs die Legitimation der Bürger, noch mehr Rechte nach Brüssel zu verlagern?
Das ist sicherlich eine große Hürde. Diese Frage wird uns in den kommenden Monaten und Jahren begleiten – und alle Akteure, die die Verwirklichung der politischen Union wollen, müssen mehr Kraft investieren und Überzeugungsarbeit leisten. Ein Hauch von Legitimationskultur ist ja durch die Wahl zum Europäischen Parlament aufgekommen, die gleichzeitig eine Wahl zur EU-Kommission war. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht alles sein. Die EU muss transparenter und bürgernäher werden. Wir erleben ein Zeitalter, in dem das Volk souveräner denn je ist und mitsprechen will. Dieser Wunsch wird nicht durch eine distanzierte Institution in Brüssel verkörpert.
Wie realistisch ist es in Ihren Augen, dass die politische Union zeitnah kommt?
Ich bin da ganz optimistisch, gerade weil wir uns im Krisenmodus befinden. Solange eitel Sonnenschein herrscht, gibt es keinen Drang nach Veränderungen. Die Probleme, die die Euro-Krise offenbart hat, die waren ja fast so erwartet worden. Helmut Kohl sprach 1992 kurz vor der Unterzeichnung der Maastricht-Verträge, die den Euro ermöglichten, davon, dass es „abwegig“ sei, auf eine stabile Währung zu hoffen, sofern es keinen politischen Rahmen gäbe. Alle Fraktionen im Bundestag applaudierten. Trotzdem ist nichts dergleichen in den folgen Jahren passiert. Das Ergebnis kennen wir. Jetzt, durch den Druck der Krise, lässt sich die Vertiefung der Europäischen Union nicht länger aufhalten.
Und noch einmal: Diese Vertiefung der Union lässt sich auch gut begründen, wenn man es denn nur versucht. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht, wenn es endlich vereint wird.
Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter
Die EU gilt vielen als Verwaltungsmoloch. Mit rund 33.000 Mitarbeitern beschäftigt die EU-Kommission in etwa so viele Menschen wie die Stadtverwaltung München.
Seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 hat das EU-Parlament deutlich mehr Einfluss gewonnen. Die Abgeordneten bestimmen über die meisten Gesetze mit, haben das letzte Wort beim Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten.
Deutschland leistet den größten Beitrag zum EU-Haushalt. 2012 zahlte Berlin netto 11,9 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind Dänemark oder Schweden aber noch stärker belastet.
Zehn Jahre nach der Osterweiterung erweist sich die Angst vor dem „Klempner aus Polen“ als unbegründet. Stattdessen wächst die Wirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten.
Neue Sanktionen gegen Russland beweisen: Die EU spielt eine Rolle in der Ukraine-Krise - ebenso wie bei anderen Krisenherden in aller Welt. Den EU-Staaten fällt es dennoch oft schwer, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen.
Bereits seit 2009 abgeschafft, lastet die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ noch wie ein Fluch auf Brüssel. Die Vorschrift setzte Handelsklassen für das grüne Gemüse fest und gilt als Paradebeispiel für die Regulierungswut von Bürokraten.
In diesem Jahr verfügt die EU insgesamt über mehr als 130 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, entspricht aber nur rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten.
Die Landwirtschaft macht einen sehr großen, aber kleiner werdenden Teil des EU-Haushalts aus. Der Agrar-Anteil am Budget ist in den vergangenen 30 Jahren von 70 auf 40 Prozent geschrumpft.
Die EU-Abgeordneten erhalten monatlich zu versteuernde Dienstbezüge von 8020,53 Euro. Hinzu kommen stattliche Vergütungen etwa für Büros, Mitarbeiter und Reisen. Ein Bundestagsabgeordneter erhält 8252 Euro, ebenfalls plus Zulagen.
Achja? Das sehen nicht alle so: Der ehemalige amerikanische Vizepräsident Al Gore erklärte unlängst in einem Interview mit WirtschaftsWoche Online, dass Europa vor einem „historischen Niedergang“ stehe.
Das habe ich schon oft gehört. Zwischen 1973 und 1984 – Stichwort: Eurosklerose – wurde die Europäische Union ja bereits totgesagt. Es hieß, wer Zukunft haben will, müsse nach Asien schauen. Europa sei nur noch interessant für Museumswärter und Archäologen. Aus dieser Krise haben wir uns befreit, Europa hat sich weiterentwickelt: die EU hat sich nach Osten geöffnet, in der Mehrzahl der EU-Länder wurde der Euro eingeführt. Die Anziehungskraft auf die Anrainerstaaten ist nach wie vor enorm hoch, acht Staaten wollen derzeit Mitglieder des Staatenbunds werden. Das Potenzial Europas ist enorm. Europa ist eine Weltmacht – aufgrund der Führungsschwäche aber derzeit eine kopflose Weltmacht. Dennoch: Es gibt gute Gründe, Herrn Gore zu widersprechen und auf die Prognosefähigkeit der Amerikaner zu Europa nicht allzu viel zu geben.
"Großbritannien bleibt in der EU"
Worin liegt denn das – wie Sie sagen – enorme Potenzial der EU?
Europa hat Wirtschafts- und Innovationskraft, Erfindergeist, eine reiche Kultur, demokratische Strukturen, eine spannende Ausstrahlung. Es gibt zig positive Dinge. Die Frage ist, wie wir dieses Potenzial ausschöpfen und organisieren können. Das ist in weiten Teilen noch ungeklärt.
Ausgerechnet eines der größten Mitgliedsländer der EU, Großbritannien, scheint das Potenzial Europas nicht zu erkennen.
Die Zweifel der Briten an Europa begleiten uns seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das gehört auf der Insel schon zum guten Ton, ich erinnere an Winston Churchill und Margaret Thatcher. Ersterer erklärte noch 1946, sein Land werde einem europäischen Bündnis nie beitreten. Thatcher wollte später von Brüssel ihr Geld zurück. Also: Großbritannien hat die Einigungsversuche stets ausgebremst – allerdings ist es immer auf den Zug Europa aufgesprungen, sobald das System funktionierte. Und zwar immer kurz bevor es zu spät war. Das wird auch dieses Mal so sein. Erstaunlicherweise deckt sich diese Erfahrung mit der öffentlichen Meinung. Jahrelang wird gemosert und kritisiert. Wenn aber Konsequenzen drohen, dreht sich der Wind. Auch die Debatte über die Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft der Briten läuft doch gerade erst an. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.
Königliche Geldsorgen
Als die "Sunday Times" 1989 zum ersten Mal die Liste der 1000 wohlhabendsten Bürger Großbritanniens veröffentlichte, stand Königin Elizabeth II mit 5,2 Milliarden Pfund an erster Stelle. Auch in den folgenden Jahren nahm die Monarchin die Spitzenposition ein.
2014 belegt die Queen mit einem Vermögen von 330 Millionen Pfund auf der Skala der Superreichen nur noch Platz 285.
Der Absturz kommt vor allem daher, dass Buckingham Palace, die Kunstsammlung Royal Collection, die Kronjuwelen und Liegenschaften des Königshauses nicht mehr ihrem Privatvermögen zugerechnet werden, sondern im sogenannten Kronvermögen (Crown Estate) gebündelt wurden. Doch auch im Tagesgeschäft hat die königliche Familie Geldprobleme. Ein Parlamentsbericht kam vor einigen Monaten zu dem Schluss, die königliche Kassenlage sei auf einem „historischen Tiefpunkt“. Der Hof gebe beständig mehr aus, als ihm vom Staat an Mitteln zugewiesen werde. Seit Ende 2000 sind die Reserven von 35 Millionen Pfund (rund 43 Millionen Euro) auf nur noch eine Million Pfund geschrumpft. In den renovierungsbedürftigen Gemäuern Buckingham Palace und Windsor Castle sind die Dächer so undicht, dass bei starken Regenfällen Eimer aufgestellt werden müssen, um Antiquitäten und Gemälde zu schützen. Allein die altmodischen Boiler in den Schlössern verursachen im Jahr Kosten von 774.000 Pfund.
Am Hungertuch nagt die 88-jährige Monarchin, die seit 1992 auf ihr Privatvermögen Steuern zahlen muss, gleichwohl nicht. Sie besitzt Immobilien wie Balmoral Castle in Schottland, Schloss Sandringham in der englischen Grafschaft Norfolk und Liegenschaften der Duchy of Lancaster mit 18 700 Hektar Land. Hinzu kommen Küstengrundstücke und Gestüte, eine private Kunstsammlung im Wert von zwei Millionen Pfund, Aktien und Wertpapiere in geschätzter Höhe von rund 100 Millionen Pfund, die legendäre Briefmarkensammlung ihres Großvaters sowie wertvolle Erbstücke ihrer Mutter.
Das Vermögen von Crown Estate (Gesamtwert: rund 7,3 Milliarden Pfund) gehört der Nation, die Königin profitiert jedoch von den Erträgen. Seit 2013 erhält sie 15 Prozent der Gewinne als „Sovereign Grant“. Damit muss sie die Ausgaben finanzieren, die ihr aus den offiziellen Pflichten als Staatsoberhaupt entstehen, etwa für Löhne ihrer Angestellten und den Erhalt der Schlösser. Für Letzteres sollte sie die königliche Schatulle künftig vielleicht weiter öffnen – damit es zu Hause nicht mehr reinregnet.
Wie hoch taxieren Sie die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt?
Bei 100 Prozent.
Wie sieht idealtypisch die Rolle der Europäischen Union in den kommenden Jahren aus? An wessen Seiten stehen wir?
Die Welt wird multipolarer, es gibt nicht mehr nur eine oder zwei Supermächte wie aktuell mit den USA und China. Die Europäische Union wird eine von mehreren Weltmächten sein; neben den USA, China, Indien, Japan, Russland und Australien. In solch einem System werden wir dann je nach Thema und Lage strategische Partnerschaften aufbauen. Wir sind dann mal Partner von China, und mal von Russland, sofern die sich mal wieder gefangen haben.
Das wäre die Rückkehr der Koalition der Willigen zulasten der USA?
Ich spreche lieber von strategischen Partnerschaften, im Kern ist es aber dasselbe. Ich glaube nicht, dass die USA sonderlich geschockt oder enttäuscht wären. Wir würden ja einfach ihren Stil kopieren. Die US-Amerikaner haben eine klare Vorstellung, was in ihrem Interesse liegt und was nicht. Und danach handeln sie. So deute ich auch die NSA-Affäre – über die sich in Amerika keiner aufregt. Schließlich wird die amerikanische Sicherheit so gewährleistet. Wir Europäer sind da oftmals nicht so klar und kühl gestrickt. Das wird sich aber sicher in einer komplexer werdenden Welt ändern. Die USA werden Bündnispartner nicht vor die Wahl stellen, sondern zusehen, eigene Mehrheiten für ihre Interessen zu schmieden. Wichtig ist ihren nur, dass sie nicht als Verlierer dastehen.
Und wo liegen die Grenzen der Europäischen Union?
Die Grenzen sind dort, wo die Menschen eine Trennlinie wahrnehmen. Derzeit wollen acht weitere Staaten perspektivisch Mitglied der EU werden. Da sind nicht die Länder dabei, die Interesse haben, aber im klassischen Denken nicht in Europa liegen. Ich denke an Kasachstan, ich denke an Georgien. Das heißt nicht, dass sich diese Sicht nicht ändern kann. Schauen Sie in die Geschichte. Im 6. Jahrhundert nach Christi bezeichnete man die griechische Halbinsel als Europa, drumherum lebten die „Barbaren“. Dieses Bild hat sich mit jeder Erkundung gewandelt. Europa hat natürliche Grenzen im Norden, Süden und Westen gefunden – nämlich dort, wo Küsten sind. Im Osten gibt es diese Trennlinien nicht. Folglich hat sich auch die Wahrnehmung, wo Europas Ostgrenze liegt, verschoben. Die große Frage bei der Erweiterung der Europäischen Union wird sein, ob die Türkei je Mitglied wird. Das ist eine offene Kontroverse. Die wird uns noch über Jahre begleiten.