Deutschland hatte sich vor wenigen Jahren noch gegen einen solchen Mechanismus gewehrt. Als Italien die europäischen Partner 2011 um Hilfe bat, sagte Innenminister Thomas de Maizière lapidar: „Italien ist gefordert, aber noch lange nicht überfordert.“
Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations” glaubt, dass viele Staaten, auch Deutschland, im Zuge Flüchtlingskrise hinzugelernt haben. „Alle wissen, dass Dublin reformiert werden muss“, sagt Janning. Damit ein verbessertes System funktionieren kann, ist es aus Sicht von Hailbronner notwendig, das Asylrecht künftig wieder strikter auszulegen: „Die Anerkennungsquoten in Deutschland sind zu hoch – auch für Syrer. Nur wer individuell bedroht wird, sollte Asyl bekommen und nicht pauschal jeder Kriegsflüchtling.“
Wer vor Krieg flieht, sollte vielmehr die Chance haben, über humanitäre Kontingente nach Europa zu kommen. „Das sollten wir aber vom individuellen Asylrecht trennen“, sagt Hailbronner.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Viele Flüchtlinge sind sich aber darüber im Klaren, dass ihre Chancen auf Asyl in Deutschland potentiell größer sind als beispielsweise in Ungarn oder Frankreich.
Wäre es also sinnvoll, das Asylrecht vollständig zu europäisieren? Dafür müssten die europäischen Verträge geändert werden, was derzeit unrealistisch ist.
Hailbronner hält es für politisch klüger, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht in Frage zu stellen. Das hindere die EU aber nicht daran, mit qualifizierter Mehrheit Verfahrensregeln beschließen, die zu einer „Quasi-Europäisierung des Asylrechts“ führt. „Dann hätten wir eine stärkere Rechtsvereinheitlichung und gleichzeitig mehr Rechtssicherheit darüber, wer Chancen auf ein Bleiberecht in der EU hat“, sagt der Asylrechtsexperte. So könnte unter anderem eine gemeinsame europäische Liste sicherer Herkunftsstaaten festgelegt werden.
Josef Janning erwartet nun schwierige Verhandlungen über eine Reform des Dublin-Systems. Der EU-Experte hält es für möglich, dass sich viele Staaten einem europäischen Verteilmechanismus verweigern könnten – vor allem die osteuropäischen. „Deutschland und andere könnten mit gutem Beispiel voran gehen“, sagt Janning. Die skandinavischen Staaten, Belgien, die Niederlande und Luxemburg ließen sich wohl einer Reform überzeugen – mit Verhandlungsgeschick und Zugeständnissen vielleicht auch Spanien, Frankreich, Italien und Österreich. „Nur so lässt sich der Schengen-Raum mit offenen Grenzen retten“, ist Janning überzeugt.
Gelingt es, das Dublin-System zu reformieren, könnte der EU-Türkei-Deal zu einer Art Blaupause für den ganzen Kontinent werden. Beschleunigte Asylverfahren an den Außengrenzen und rasche Rückführungen in sichere Drittstaaten wären dann der europäische Standard. Wer aus Kriegsgebieten flieht, muss sich dann um einen Platz in einem europäischen Flüchtlingskontingent bewerben.