Kurz vor einem Treffen mit Kreml-Chef Wladimir Putin hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor einem Millionenpublikum die Einheit des Landes beschworen und Deutschland kritisiert. Den deutschen Behörden warf er vor, „Terroristen zu ernähren“ und stellte erneut die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. „So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren“, sagte er vor jubelnden Teilnehmern der Kundgebung gegen den Putschversuch am Sonntagabend in Istanbul. Die EU hat für einen solchen Fall das Ende der Beitrittsverhandlungen angekündigt.
Vorwürfe, er strebe in Folge des Putschversuches in seinem Land nach Alleinherrschaft, wies Erdogan zurück. „Ich bin kein Despot oder Diktator“, sagte er dem Sender Al-Dschasira nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Zugleich griff er erneut westliche Staaten an: „Der Westen hat uns nicht gezeigt, dass er gegen den Putsch ist. Ihr Schweigen ist unentschuldbar.“
Am Dienstag trifft Erdogan den Kreml-Chef in St. Petersburg. Die Türkei hatte Ende November einen russischen Bomber im Grenzgebiet zu Syrien abgeschossen. Moskau verhängte daraufhin massive Sanktionen etwa im Tourismus gegen Ankara. Ende Juni hatte Erdogan dann in einem Brief sein Bedauern über den Zwischenfall bekräftigt. Bei dem Treffen will Erdogan mit seinem „Freund Wladimir“ den bilateralen Streit nun endgültig beilegen, wie er der Nachrichtenagentur Tass sagte.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Weniger freundlich äußerte sich Erdogan über Deutschland. Er kritisierte, dass er sich bei der türkischen Kundgebung in Köln am Sonntag vor einer Woche nicht per Videoleinwand zuschalten durfte. „Wo ist die Demokratie?“, fragte er. Den deutschen Behörden warf er vor, bei einer früheren Veranstaltung in Köln eine Videoschalte der PKK zugelassen zu haben. „Sollen sie die Terroristen nur ernähren“, sagte er. „Wie ein Bumerang wird es sie treffen.“
In Deutschland wuchs unterdessen die Skepsis hinsichtlich der Entwicklung in der Türkei. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) rechnet nach eigenen Worten nicht damit, dass die Türkei in den nächsten zehn oder 20 Jahren EU-Vollmitglied wird - denn auch die EU sei derzeit nicht in der Verfassung, „auch nur einen Kleinststaat zusätzlich aufzunehmen“. Trotzdem solle die EU weiter daran arbeiten, die Türkei auf europäische Standards zu bringen. Es mache „keinen Sinn, so zu tun, als ob wir nicht mit diesem schwierigen Nachbarn klar kommen müssen“, sagte er im ARD-Sommerinterview.
In Deutschland wurden unterdessen Rufe laut, den Einfluss des von Ankara kontrollierten Moscheen-Dachverband Ditib einzuschränken. „Meines Erachtens sollte man es nicht zulassen, dass ein Verband wie Ditib, der offenbar Sprachrohr von Präsident Erdogan ist, den islamischen Religionsunterricht in Schulen gestaltet“, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Ähnlich äußerte sich die kirchen- und religionspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Kerstin Griese.
Erdogan dankte bei der „Demokratie- und Märtyrer-Versammlung“ in Istanbul den anwesenden Oppositionsvertretern für ihre Teilnahme. Zu der Veranstaltung waren auf Einladung des Präsidenten auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP und der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, gekommen. Nicht eingeladen wurde die pro-kurdische HDP. Erdogan wirft der zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.
Aus türkischen Regierungskreisen hieß es, an der Großkundgebung hätten auf dem Veranstaltungsareal in Yenikapi und in der Umgebung rund fünf Millionen Menschen teilgenommen. Anwesende sprachen zwar ebenfalls von einem Millionenpublikum, hielten fünf Millionen allerdings für zu hoch gegriffen.