Konjunkturausblick Russlands Wirtschaft ist über dem Berg

Sanktionen? Rubelverfall? Vertrauenskrise? Schnee von gestern. Russland wird 2017 wieder wachsen – auch, weil Präsident Putin den liberalen Wirtschaftspolitikern freie Hand lässt. Mangels Reformen sind große Wachstumssprünge aber künftig nicht zu erwarten.

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Kreml Quelle: dpa

Sobald dem alten Jahr die letzte Stunde geschlagen hat, bewegt sich in Russlands Wirtschaft gar nichts mehr. In der Woche nach Neujahr haben die Russen allesamt frei. Und anders als in den vergangenen Jahren scheint es, als könnten die Menschen zwischen Kaliningrad und Kamtschatka die staatlichen Feiertage mal genießen: Diesmal droht keine Katerstimmung wie vor einem Jahr, als der Ölpreis nach Jahreswechsel abschmierte. Oder wie vor zwei Jahren, als der Rubel gerade hart abgewertet hatte und sich jeder fragte, ob sich der Trend am ersten Bankarbeitstag fortsetzen wird. Was er dann auch tat.

Jetzt aber steht Russlands Wirtschaft erstaunlich stabil da. Bereits im letzten Quartal des ablaufenden Jahres dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um rund ein Prozent wachsen, für das Gesamtjahr 2017 rechnet das Wirtschaftsministerium mit einem Zuwachs in ähnlicher Höhe – wobei man äußerst konservativ bei einem Ölpreis von 45 Dollar pro Barrel kalkuliert. Die russische Wirtschaft ist über den Berg.

Hierzulande dürfte das manch einen grämen, zumindest aber überraschen: Seit zweieinhalb Jahren nun sind Wirtschaftssanktionen gegen das russische Regime unter Präsident Wladimir Putin in Kraft, eine Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und des Kremls Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine. Dort aber geht der Krieg weiter, in Syrien erst Recht. Die Palastrevolte unzufriedener Oligarchen in Putins Umfeld, worauf gerade die Amerikaner spekuliert hatten, ist nicht in Sicht. Stattdessen wächst Russland wieder?

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Will man Russland verstehen, lohnt sich stets ein genaues Hinsehen. Und dann fällt ein Widerspruch auf: Trotz seiner knallharten und bisweilen rücksichtslosen Außenpolitik lässt Wladimir Putin zuhause einem Team neoliberaler Wirtschaftsfachleute freie Hand. Sie fahren eine extrem orthodoxe Geldpolitik und beharren auf Haushaltskonsolidierung.

Das, meint Analyst Andreas Schwabe von Raiffeisen International in Wien, sei der Grund für die enorme Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft: „Insgesamt war diese Rezession trotz der Sanktionen und des niedrigen Ölpreises nicht so schrecklich hart wie die vorherigen.“ Selbstverständlich war das nicht. Bis Weihnachten 2014 stütze die Notenbank den Rubel mit massiven Stützungskäufen, was sehr zu Lasten der Rücklagen ging. Dann wurde die Währung freigegeben, was zu zwischenzeitlicher Panik und Schlangen an den Wechselstuben führte.

Aus heutiger Sicht war dieser Schritt dennoch ein kluger, sagt Schwabe: „Der Rubelverfall ließ die Importe sinken, da der Konsum in kürzester Zeit einbrach. Aber niedrigere Importe bremsen auch den Rückgang des BIP-Wachstums ab, da sich die Russen stattdessen mit heimischen Waren versorgen.“

Parallel dazu halten die Notenbanker stoisch am „Inflation targeting“ fest: Sie setzen die Leitzinsen hoch, um das Schreckgespenst der Inflation auf Distanz zu halten. Das ist oberste Priorität für russische Geldpolitiker; die Russen mussten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren schon dreimal miterleben, was Hyperinflation bedeutet.

Politisch kann einem das schnell um die Ohren fliegen.

Weit entfernt vom „Global Player“

Inflationsziel bis Ende 2017 ist vier Prozent – aber auch mit zuletzt rund sechs Prozent kann man im Kreml wohl gut leben. Daher senken die Notenbanker schon seit Jahresbeginn Schritt für Schritt die Leitzinsen, damit die Investitionen steigen. Hier aber will die Politik nicht so recht gelingen: In Kennziffern wie Bruttoanlageinvestitionen, Industrieproduktion oder Exportvolumina fasst der russische Bär einfach nicht Tritt; immerhin scheint der Kapitalabfluss der vergangenen Jahre gestoppt.

„Angesichts der massiven Rubelabwertung müssten die Exporte eigentlich viel stärker anziehen“, sagt Russlandkenner Andreas Schwabe. „Es fehlt aber eine konkurrenzfähige Exportindustrie in Russland, die lässt sich nicht über Nacht aufbauen.“ Zwar registriert er in einzelnen Sektoren wie der Chemieindustrie oder Nahrungsmittelverarbeitung Zuwächse – aber meist als Folge einer industriepolitisch motivierten Importsubstitution, und dies auf einem eher niedrigen Niveau.

Makroökonomisch steuern die russischen Geldpolitiker ihr Land vorbildlich. Doch mit Blick auf die Mikroökonomie kommt Russland einfach nicht vom Fleck: Das größte Flächenland der Erde schafft es einfach nicht, ein „Global Player“ zu werden – vom militärischen Sektor mal abgesehen. Ändern ließe sich dies auf zweierlei Weise.

Erstens könnte der Kreml eine noch aktivere Exportförderung über die Industriepolitik forcieren: Steuervorteile für Exporteure, eine schlagkräftige Exportkreditversicherung, mehr Budgetmittel für die Entwicklung moderner Technologien, Billigkredite; Ideen gäbe es viele, doch alle kosten Budgetgelder. Und die fehlen Putins Technokraten in Zeiten dauerhaft relativ niedriger Ölpreise.

Das Haushaltsdefizit, das sich 2017 auf 4,7 Prozent belaufen soll, kann der Staat bislang durch die Zweckentfremdung von Reservere- und Wohlstandsfonds decken, ab 2018 aber versiegen diese Quellen. An den internationalen Finanzmärkten kann Russland wegen politischer Unberechenbarkeit kaum Bonds emittieren, der lokale Markt für Rubel-Anleihen ist schwach entwickelt. Die Folge: Russland muss weiterhin sparen, für eine klassische Industriepolitik fehlt das Geld – sogar beim Militär muss der Kämmerer jetzt kürzen.

Bleibt also, zweitens, die Sache mit den Strukturreformen: Kampf gegen die Korruption, die Stärkung des Rechtsstaats, Zerschlagen von Monopolisten, Deregulierung, Privatisierungen, mehr Freihandel und Öffnung gen Westen und Osten. All das würde das Investitionsklima so drastisch verbessern, sodass wieder mehr Kapital nach Russland fließen könnte. Doch so viel Freiheit mag ein Autokrat wie Wladimir Putin nicht gewähren. Zu groß ist die Gefahr, dass man ihn eines Tages einfach abwählt, dass die Mächtigen ihre Pfründe verlieren oder das Land ins Chaos stürzt.

Also wird Russland in den kommenden Jahren zwar wachsen – aber auf einem so niedrigen Niveau, dass man genauso gut von Stagnation sprechen könnte. Die Mehrheit der Russen ist damit dennoch zufrieden: Sie sind nach zwei Rezessionen heute in etwa so wohlständig wie Mitte der Nullerjahre, dafür sind die Wirren der neunziger Jahre vorbei. Bei derart geringen Erwartungen an die Zukunft und die da oben, lässt sich’s auch mit einer Stagnation wie zu Sowjetzeiten prima leben.

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