Viele Wahrheiten Misstrauen gegen Statistik befeuert Parallelwelten

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Gradmesser des Glücks und Seismografen politischer Stimmungen

Dabei schaffen Daten erst die Transparenz, die eine liberale Gesellschaft zum Überleben braucht. Wirtschaftspolitik ohne Daten ist schlicht nicht möglich. „Verlieren Statistiken ihre Unschuld, gefährdet das die Demokratie“, schrieb der Ökonom William Davies jüngst im „Guardian“. Wie aber ist der Autoritätsverlust der Zahlen zu erklären? Und welche Verantwortung dafür tragen eigentlich jene, die täglich mit Zahlen und Statistiken arbeiten?

Optische Täuschung

Stabile Erkenntnisse für eine stabile Welt

An einem Tag im Spätherbst 2015, als van Suntum in Münster über der Zuwandererstudie brütet und schimpft, steht in einem Frankfurter Vortragssaal ein Herr mit auffälligem Schnäuzer und spricht über ein Thema, das sonst meist in Reden hoch spezialisierter Experten verschwindet. Der Mann heißt Otmar Issing, er war als Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank einer der wichtigsten Geldpolitiker der Welt, und nun macht er sich Sorgen. Deswegen tritt er an diesem Tag vor Menschen auf, die sonst eher unter sich diskutieren und unter dem Schirm des Internationalen Währungsfonds zu einem Forum über Statistiken geladen haben. Issing hat sich viel mit dem Thema beschäftigt, vielleicht mehr, als jemand in seiner Position, noch dazu im Ruhestand, müsste. Aber Issing findet, das sei eben wichtig. „Können Wirtschaftspolitiker ohne Statistiken handeln?“, fragt er, um sich die Antwort dann selbst zu geben. „Es wäre vorstellbar, aber nur mit einer Menge Wenn und Aber. Ohne Statistiken wäre die Wirtschafts- und Geldpolitik blind.“ Deswegen müsse man alles dafür tun, den Wildwuchs an Daten, aus denen sich jeder nach eigenem Bedarf seine Wahrheit picke, zu beenden. Deswegen sei das Berufsbild des Statistikers so wichtig, deswegen müssten die Herren und Damen über die Zahlen möglichst unumstritten arbeiten.

Die Zahlen sollen schließlich einen gemeinsam Rahmen schaffen. Sie sollen anschaulich machen, was wirklich los ist. Sie sollten helfen, dass wir die gleiche Welt meinen, wenn wir von ihr sprechen.

Ausgehend von biblischen Zeiten – das Neue Testament beginnt damit, dass ein Kaiser sein Volk zählen wollte – bis ins Mittelalter hinein wurden Menschen und Unternehmungen einzeln gezählt. Man wollte einen Überblick über Gesellschaft und Wirtschaft; Statistik, das war eine Staatslehre. So waren es keine Mathematiker, die die Statistik, erfanden. Sondern Fürsten, die im 16. Jahrhundert erstmals systematisch erfassten, welche Untertanen ihnen wie viel schuldeten. „Die Selbsterkenntnis der Wirtschaft bedeutete hier das statistisch geordnete Wissen über die Untertanen und deren Eigentum“, schreibt der Ökonom Karl-Heinz Brodbeck. Statistik war immer auch ein Machtinstrument im Besitz der Herrscher, was manchen heutigen Skeptiker bestärken dürfte.

In einer neuen Statistikserie erklärt die WirtschaftsWoche die Fallstricke im Umgang mit Zahlenkolonnen, Quoten und Umfragen – und beschreibt die Tricks der Manipulateure aus Politik, Wissenschaft und Interessengruppen.

Das änderte sich mit Einsetzen der Industrialisierung, die parallel zu immensen Fortschritten in der Mathematik verlief und die moderne Statistik begünstigte. Es entstanden statistische Rechnungen, die aus gut gewählten Stichproben auf die Gesamtheit hochrechneten. Diese sollten den Regierenden ein möglichst umfassendes, aber vereinfachtes Bild von der Wirklichkeit in ihrem Land zeichnen. Statistik sollte mit Bevölkerung und Wirtschaft machen, was die Kartografie mit Landschaft macht. So entstand parallel zur Industrialisierung auch ein Werkzeug, ihre politische, gesellschaftliche und ökonomische Begleiterscheinungen zu vermessen. Aus verschiedenen Statistiken zusammengetragene Konstrukte wie das Bruttoinlandsprodukt wurden zum Gradmesser des Glücks, aus Erkenntnissen über die Repräsentativität bestimmter Gruppen Seismografen politischer Stimmungen.

Die Prinzipien, mit denen aber Stichproben gebildet und aus denen dann allgemeingültige Beschreibungen hergeleitet wurden, beruhten auf drei Eigenschaften: der Bezugsrahmen ist die Nation, Biografien entwickeln sich frei von Brüchen, die Gesellschaft zerfällt grob in vier Gruppen: Arbeiter, Angestellte, Unternehmer und Rentner.

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