Decos hat der Zettelwirtschaft den Kampf angesagt: Seit 2011 verzichten die 180 Mitarbeiter der niederländischen Software-Firma nahezu komplett auf Papier. Selbst das neue Bürogebäude in der Nähe von Amsterdam ist auf die Digitalstrategie ausgelegt: schräge Wände, weil das Unternehmen keine Papierablage braucht. Übersichtliche Schreibtische ohne Stifte und Notizblöcke. Hauseigene Technologie, um papierlos Protokoll in Meetings zu führen und Dokumente zu verwalten.
Jedem Mitarbeiter hat Decos ein iPad geschenkt. "Allerdings unter der Voraussetzung, dass die Angestellten während der Arbeit kein Papier mehr benutzen", sagt Sprecherin Marcia van Kampen.
Diese Kultur passt zum Geschäftsmodell von Decos: Das Unternehmen verdient sein Geld mit Softwares zur digitalen Verwaltung von Dokumenten. Das System bündelt die gesamten Geschäftsinformationen eines Unternehmens. Damit sollen Mitarbeiter Informationen über alle Abteilungen hinweg speichern, austauschen, verwalten und archivieren können. Papier ist damit zumindest in der Theorie überflüssig.
Diese ECM-Systeme nutzen deutsche Unternehmen
Mit dieser Software ist es möglich, Papierunterlagen einzuscannen. Jedes zweite Unternehmen (51 Prozent) nutzt ein solches System und weitere 14 Prozent planen die Nutzung.
Der Digitalverband Bitkom hat erstmals einen Digital Office Index erstellt und dafür mehr als 1100 Unternehmen befragt.
Mit diesem Programm kann der Chef unter anderem eine Rechnung oder einen Urlaubsantrag freigeben. 44 Prozent der befragten Unternehmen setzen solch eine Software bereits ein, 18 Prozent planen den Einsatz laut Bitkom.
35 Prozent der befragten Unternehmen nutzen solche Systeme bereits. 24 Prozent planen die Nutzung.
Sie regeln, über welche Kanäle Informationen verteilt werden. Jedes dritte befragte Unternehmen (33 Prozent) nutzt bereits ein solches System, 16 Prozent wollen es laut Digitalverband in Zukunft nutzen.
Mit diesem Tool können Mitarbeiter gleichzeitig an einem Projekt arbeiten. 31 Prozent der befragten Unternehmen verwenden diese Tools, 22 Prozent planen laut Bitkom den Einsatz.
Software, mit denen Mitarbeiter unabhängig vom Standort Unternehmensinformationen recherchieren können, ist bei 28 Prozent der befragten Unternehmen im Einsatz. 15 Prozent möchten laut Bitkom in Zukunft solch eine Software einführen.
18 Prozent der befragten Unternehmen nutzen ECM-Lösungen, die eingehende Dokumente und Informationen automatisch erkennen – zum Beispiel eine Software, die den Inhalt der Briefpost digital erfasst und direkt an die zuständige Abteilung weiterleitet. Laut Digitalverband wollen 19 Prozent diese Programme zukünftig einsetzen.
Die Software senke die Kosten für das Drucken, die Hardware, Verbrauchsmaterialien und Serviceleistungen, wirbt das Unternehmen. Und: Die Software spare Arbeitszeit ein. "Der größte Vorteil des digitalen Büros ist, dass jeder jederzeit und überall Zugang zu allen Informationen hat", sagt van Kampen. Die Konsequenz: Die Mitarbeiter konzentrierten sich mehr auf den Inhalt und arbeiten enger zusammen. "Durch die Programme entsteht eine neue Arbeitskultur, die unsere Angestellte kreativer macht und ihnen hilft, auch mal um die Ecke zu denken", sagt van Kampen.
Die Versprechen von den Vorteilen des papierlosen Arbeitens machen seit Jahren die Runde. Allein in diesem Jahr stellten auf der Cebit 250 Unternehmen ihr Software-Neuheiten für das digitale Büro vor. Im Mittelpunkt: "Clouds, mobile ECM-Systeme und insbesondere Programme zur Digitalisierung von Rechnungen", sagt Frank Früh vom Digitalverband Bitkom.
Doch die einzelnen Systeme gibt es meistens nur in einem Komplettpaket. Der Trend geht laut einer CeBIT-Sprecherin dahin, dass die IT-Unternehmen ihre Kunden von Anfang bis Ende bei ihrer Digitalstrategie begleiten. Die Umstellung betrifft dann das gesamte Unternehmen: Die Software ist darauf ausgelegt, dass die Mitarbeiter verschiedener Abteilungen an einem Projekt gleichzeitig arbeiten können – und dadurch Zeit und Papier sparen. Diese Umstellung dauert meist Jahre und bedeutet deshalb in den meisten Fällen eine langjährige Partnerschaft – und ein sich rentierendes Geschäft für die Anbieter solcher Software. Für das Jahr 2016 rechnet der Digitalverband Bitkom mit einem Umsatz von 1,84 Milliarden Euro mit ECM-Systemen – ein Wachstum von etwa vier Prozent.
Doch Unternehmen wie Decos, die mit dem Papierverzicht ernst machen, bilden bislang die Ausnahme. Bis sich die sogenannten Enterprise-Content-Management-Systeme (ECM-Systeme) flächendeckend in deutschen Büros etablieren werden, ist es noch ein weiter Weg. Bitkom hat 880 mittelständische Unternehmen 2015 dazu befragt und kommt zu dem Ergebnis: Gerade mal ein Drittel setzt Standard-Software zur Digitalisierung ein – und reduziert somit seinen Papierverbrauch.
Das digitale Büro hat viele Schwachstellen
Der Wille ist in vielen deutschen Unternehmen zumindest vorhanden, auf papierlose Systeme umzustellen: Laut dem Marktforschungsunternehmen IDC, das 220 Unternehmen befragt hat, erkennen neun von zehn Unternehmen das Potenzial von Programmen zur Dokument- und Papierverwaltung. Sie können sich sogar solche Systeme in ihren Unternehmen vorstellen.
Doch Wunsch und Realität driften auseinander: Die Digitalisierung in deutschen Büros kommt bislang schleppend voran. Während laut IDC 2014 noch 49 Prozent aller Dokumente aus Papier in deutschen Büros bestanden, sind es zwei Jahre später nur zwei Prozentpunkte weniger. Dabei hatten die Befragten 2014 erwartet, dass heute etwa sechs von zehn Dokumente digital sind.
Den Verband der deutschen Papierfabriken freut es. Zwischen 1950 und 2000 stieg der deutsche Papierverbrauch kontinuierlich. Mit der Jahrtausendwende setzte die zunehmende Digitalisierung ein – und ließ die Papierindustrie zittern. Doch der Rückgang blieb aus: Seit 2000 stagniert der Papierverbrauch über alle Sorten auf einem Niveau von etwa 20 Millionen Tonnen. Auch die Herstellung von Büropapieren in Deutschland ist – mit kleinen Schwankungen – seitdem weitgehend konstant. Verbandssprecher Gregor Andreas Geiger wundert es nicht: "Die Information auf Papier ist schnell greifbar, leicht reproduzierbar und überall nutzbar. Deshalb wird Papier auch künftig einen festen Platz in den Büros haben."
Menschen halten am Papier fest
Laut IDC-Befragung wünscht sich jeder dritte Angestellte Papier am Arbeitsplatz – und sogar jeder zweite Geschäftskunde. Zum Beispiel, wenn es um Lieferscheine, Rechnungen und Gutscheine geht. Die Marktforscher sind überzeugt, dass das papierlose Büro jetzt noch ferne Zukunftsmusik ist.
Frank Früh vom Digitalverband Bitkom trifft eine radikalere Prognose. "Das komplett papierlose Büro wird es wohl niemals geben, aber wir können es immerhin papierarm machen." Das liegt seiner Meinung nach an gesetzlichen Vorgaben, Sicherheitsbedenken, aber auch an dem Wunsch des Menschen nach etwas Greifbarem, Verlässlichem – wie Papier es ist.
Laut dem Fraunhofer Institut sind der großen Mehrheit der deutschen Angestellten (86 Prozent) Software-Anwendungen und Computer zu umständlich. Stattdessen setzen sie lieber weiterhin auf Papier. Um die Programme nutzen zu können, bräuchten viele der Mitarbeiter Schulungen – die für das Unternehmen ein weiterer Kostenfaktor wären.
Hinzu kommt, dass die Unternehmen sich davor scheuen, klare Verantwortlichkeiten in Sachen Digitalisierungsstrategie zu verteilen. Der Digitalverband Bitkom hat 1000 Unternehmer dazu befragt: Nur zwei Prozent der Konzerne ab 500 Beschäftigten haben einen Chief Digital Officer, der die digitale Transformation im Unternehmen vorantreibt. Nur vier von zehn Unternehmen haben eine klare Strategie zur Digitalisierung der Geschäftsprozesse.
Behörden und Sicherheitsbedenken bremsen Digitalisierung aus
Zwar haben bundesweit einige Behörden schon damit begonnen, Prozesse zu digitalisieren. Manche Dokumente akzeptieren Gerichte und Behörden aber nur in Papierform – samt Wasserzeichen, Siegeln oder Schnüren. Hinzu kommt, dass sich die gesetzlichen Regelungen nicht nur außerhalb von Deutschland, sondern auch von Bundesland zu Bundesland unterscheiden: Mal sind es notarielle Beglaubigungen, mal Arbeitsverträge, mal Urkunden, die sie nur in Papierform akzeptieren.
Oft entscheiden sich Unternehmen aber auch aus Angst vor einem Datenverlust für eine Papier-Ablage. Denn die Technik muss selbst bei Systemausfällen und Cyberangriffen darauf ausgelegt sein, wertvolle Daten zu sichern. Und das in Zeiten, in denen Hacker immer öfter die Informationstechnologien von Firmen gezielt angreifen. "Absolute Sicherheit ist unmöglich, denn Angreifer entwickeln ihre Attacken permanent weiter", sagt eine IDC-Sprecherin.
Ein Beispiel ist die Erpressersoftware Locky, die derzeit stündlich Daten auf 5300 deutschen Computern verschlüsselt und Lösegeld fordert. Bisher haben Experten noch keine Möglichkeit gefunden, die Daten zu entschlüsseln. Die Mitarbeiter öffnen deshalb keine Anhänge mehr – die geschäftlichen Abläufe verlangsamen sich.
Decos trotzt zwar diesen Bedenken. Geschäftspartner, die noch auf Papier setzen, und Gesetzte in anderen Ländern machen das zu 100 Prozent papierfreie Büro aber auch bei dem niederländischen Unternehmen unmöglich. "Wenn unsere Mitarbeiter zum Beispiel zu unserer Zweigstelle in Indien fliegen, müssen das Visum und die Tickets ausgedruckt werden. Dieses Land ist noch nicht so digital", sagt van Kampen.
An der Gesetzeslage in Indien kann Decos zwar nichts ändern. Das IT-Unternehmen will aber zumindest seine Geschäftspartner dazu bewegen, auf den Digitalisierungszug aufzuspringen. Wer Decos Post schickt, bekommt sie zurück – mit dem Hinweis, dass das IT-Unternehmen nur noch digital zu erreichen ist. Die Mehrheit der Geschäftspartner reagiert laut Decos positiv, wenn sie ihnen die Gründe dafür nennen. "Natürlich gibt es auch Unternehmen, die nicht kooperieren und weiterhin Papier verwenden wollen", sagt van Kampen.
Die dürfen die Zettelwirtschaft dann aber bitte selbst produzieren: Wenn eine Kunde auf eine Rechnung aus Papier besteht, schickt Decos sie ihm trotzdem digital zu – damit der Kunde sie selbst ausdruckt.