Der Fachkräftemangel aufgrund des demografischen Wandels betrifft praktisch alle Branchen in Deutschland. In der Halbleiterbranche stellen fehlende Ingenieure und Facharbeiter sogar eine Bedrohung für die neuen Chipwerke da, welche die Konzerne Intel in Magdeburg sowie Infineon und TSMC in Dresden in den kommenden Jahren hochziehen wollen. „Der Mangel an Fachkräften ist schon heute das Nummer-eins-Thema der gesamten Chipbranche“, sagt Christoph Kutter, Professor für Polytronische Systeme an der Universität der Bundeswehr München und Direktor des Fraunhofer-Instituts für Elektronische Mikrosysteme und Festkörper-Technologien. „Und für die kommenden zehn Jahre wird es sogar das zentrale Standortthema überhaupt.“
Seine Aussage wird bestätigt durch aktuelle Zahlen, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vorgelegt hat. Demnach konnten in der deutschen Halbleiterindustrie im vergangenen Jahr rund 82.000 Stellen nicht durch passend qualifizierte Arbeitslose besetzt werden; im Jahr zuvor betrug jene Zahl erst 62.000 Stellen. Anders ausgedrückt wuchs die Fachkräftelücke im Chipsektor binnen eines Jahres also um 30 Prozent. „Dieser Mangel betrifft Ingenieure, aber auch gelernte Facharbeiter gleichermaßen“, sagt der Halbleiterexperte Kutter.
Der Hauptgrund für diese wachsende Kluft ist in den Augen von Stefan Wallentowitz geradezu banal. „In Fachkräfte und Ingenieure zu investieren hat in den vergangenen 20 Jahren niemanden interessiert.“ Der Informatiker gibt einer fatalistischen Denke in Deutschland die Mitschuld: „Viele haben gedacht: Chipdesign und Halbleiterproduktion machen ohnehin die Chinesen“, so Wallentowitz. Und heute wundere man sich über fehlende Fachkräfte. „Das war am Ende eine selbst erfüllende Prophezeiung.“
Mögliche Bedrohung für neue Chipwerke in Ostdeutschland
Heute könnte der Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren sogar die geplanten neuen Halbleiterwerke von Intel in Magdeburg sowie TSMC und Infineon in Dresden bedrohen. „Denn gleichzeitig wächst in der Branche die Sorge, dass die benötigten Fachkräfte fehlen und die erfolgreiche Ansiedlung und Aufnahme der Produktion dadurch gefährdet sein könnten“, schreibt Sabine Köhne-Finster, Teamleiterin im Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung am IW, in ihrer Analyse.
Diese Befürchtung teilt der Fraunhofer-Experte Kutter in der Form nicht. Seiner Einschätzung nach werden sich die Unternehmen Intel, TSMC und Infineon die benötigten Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt und im Ausland selbst anwerben. „Immerhin haben sie ja auch sehr moderne Arbeitsplätze anzubieten“, sagt Kutter. Gleichwohl kann er sich durchaus vorstellen, dass es hier zwischen den Ansiedlungen in Magdeburg und Dresden zu Unterschieden kommt. Schließlich beherberge Dresden heute schon Halbleiterwerke von Bosch, Globalfoundries und Infineon, während es sich bei Magdeburg um eine komplette Neuansiedlung handele. „Die sächsische Landeshauptstadt hat dadurch den Vorteil, dass es einen vorhandenen Pool von einschlägig ausgebildeten Fachkräften gibt“, so Kutter.
Um dem in Zukunft noch größer werdenden Fachkräftemangel zu begegnen, sollen Unternehmen und Politik in den Augen der Branchenexperten an mehreren Stellschrauben drehen. „Die Industrie muss sich viel stärker als bisher engagieren, um ihre Jobs attraktiver zu machen“, sagt Wallentowitz, dessen Studierende allesamt als potenzielle Arbeitskräfte für die Chipwerke infrage kommen. „Die Halbleiterkonzerne konkurrieren hier mit Unternehmen wie Google und KI-Anbietern.“ Das sieht Fraunhofer-Experte Kutter recht ähnlich – und fordert vor allem mehr Werbung für technische Ausbildungsberufe: „Das Handwerk hat es vorgemacht, daran sollten sich technische Produktionsunternehmen ein Vorbild nehmen.“
Keine Chipexperten aus Singapur
Wie gut oder schlecht das aber auch funktionieren wird, eines ist aus Sicht der beiden Experten klar: Inländische Fachkräfte allein werden die Lücke nicht schließen können. „Wir brauchen Zuwanderung, vor allem im Ingenieursbereich“, sagt Kutter. Diese Ansicht teilt Informatiker Wallentowitz – und unterstreicht: „Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland wird es in der Halbleiterindustrie nicht funktionieren.“
Zugleich wirbt er dafür, bei der Zuwanderung breiter zu denken als bisher: „Die Industrie möchte schlüsselfertig ausgebildete Leute haben“, so Wallentowitz. „Es wird uns aber kaum gelingen, im großen Stil Chipexperten aus Singapur anzuwerben.“ Folglich müssten Unternehmen in Deutschland viel stärker als bisher darauf setzen, die bereits im Lande befindlichen Menschen umzuschulen und selber auszubilden. „Einen Handwerker zum Halbleiter-Operator umzuschulen mag eine Herkulesaufgabe sein“, so Wallentowitz, „das wird in vielen Bereichen aber der einzig gangbare Weg sein.“