Masern-Epidemie "Eine Masern-Impfpflicht wird nichts bringen"

Wie sich Masern-Ausbrüche und Todesfälle wie jetzt in Berlin vermeiden lassen, erläutert Jan Leidel, der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), im Interview mit der WirtschaftsWoche.

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Eine Masernimpfung Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Leidel, seit die Zahl der Maserninfizierten in Berlin auf über 500 angestiegen und nun sogar ein Kind an der Virusinfektion gestorben ist, wird der Ruf nach einer Impfpflicht laut. Wäre das die richtige Maßnahme?

Jan Leidel: Nein, ich denke, eine Masern-Impfpflicht wird nichts bringen. Sie wäre verfassungsrechtlich fragwürdig, praktisch kaum umzusetzen und sie würde im Zweifelsfall sogar solche Menschen auf die Barrikaden bringen, die sich oder Ihre Kinder eigentlich impfen lassen wollten. Mit Druck erreicht man da wenig.

Von Ihnen als oberstem deutschen Impfapostel hätte ich jetzt eigentlich einen flammenden Appell für etwas mehr Druck in Richtung Impfen erwartet. Woher der Pessimismus?

Ich bin nicht pessimistisch, sondern realistisch. Das Infektionsschutzgesetz bietet zwar die Möglichkeit einer Impfpflicht. Aber nur bei wirklich schwerwiegenden Krankheiten. Also etwa den Pocken, mit einer Todesrate von einem Drittel der Erkrankten. Auch bei Ebola könnte ich mir das vorstellen.

Fünf Mythen über das Impfen

Aber nicht bei den Masern?

Nein, denn die Masern sind zwar längst nicht so harmlos, wie viele glauben. Aber sie sind natürlich nicht mit solchen extrem tödlichen Seuchen zu vergleichen. Aber selbst wenn es eine Impfpflicht gäbe, wie wollten wir sie durchsetzen? Wenn öffentliche Kindergärten keine ungeimpften Kinder mehr aufnehmen würden, hätten wir einen Boom bei den Waldorfkindergärten, die das Impfen tendenziell eher kritisch sehen.

Wäre die Einschulung nicht eine gute Gelegenheit, um die Impfung einzufordern?

Nicht wirklich, denn den Schulbesuch vom Impfstatus abhängig zu machen beißt sich wiederum mit der bei uns geltenden Schulpflicht. Einige Ärztevertreter aus den neuen Bundesländern, wo zu Zeiten der DDR-Diktatur eine Impfpflicht herrschte, hatten schon vor einigen Jahren vorgeschlagen, den Gymnasialbesuch davon abhängig zu machen. Frei nach dem Motto: Wer zur Elite des Landes gehören will, muss geimpft sein. Aber das ist doch Käse.

Zehn Krankheiten, die nicht auszurotten sind
MalariaForscher warnen, dass der Klimawandel Einfluss auf die Verbreitung von Malaria haben könnte. Durch die Erderwärmung vermehren sich die als Malariaüberträger bekannten Mücken stärker als früher. Mehr als eine Million Menschen sterben laut Universität Washington weltweit jedes Jahr an Malaria. Quelle: dpa
BotulismusDie klassische Lebensmittelvergiftung, der sogenannte Botulismus, wird meist durch verdorbenes Fleisch und nicht fachgerecht eingekochtes Gemüse hervorgerufen. Botulismus ist nicht ansteckend und zeigt sich meist durch Sehstörungen sowie Probleme beim Sprechen und Schlucken. In schweren Fällen lähmt der Erreger Clostridium botulinum die inneren Organe, Erbrechen und Durchfall stellen sich ein. Betroffene sterben ohne Behandlung meist an Ersticken. Quelle: dpa
StaublungeEine zu Zeiten des Kohleabbaus im Ruhrgebiet weit verbreitete Krankheit ist die Staublunge. Trotz spezieller Filter und Schutzmasken, die die Lungen der Bergarbeiter schützen sollen, gibt es immer noch Krankheits- und Todesfälle durch die hohe Feinstaubbelastung. Jüngere Bergarbeiter sollen laut National Public Radio stärker betroffen sein, da die Krankheit bei ihnen schneller voranschreitet. Quelle: AP
CholeraDie Durchfallerkrankung Cholera fordert jedes Jahr unzählige Todesopfer. Schuld ist verunreinigtes Wasser, deshalb verbreitet sich die Krankheit vor allem in den Armenvierteln dieser Welt. Das Erdbeben von Haiti rief vor vier Jahren eine große Cholera-Epidemie hervor. Seitdem sind laut Statistiken rund 8400 Menschen an Cholera gestorben. Quelle: dapd
TuberkuloseTrotz Impfmöglichkeiten und Antibiotika konnte die Tuberkulose bisher nicht besiegt werden. Ein Grund ist eine resistente Mutation des Erregers, die sich seit den Achtzigern verbreitet hat. Die Krankheit befällt meist die Atemwege, allerdings ist auch ein Befall des Nervensystems und der Organe möglich. Tuberkulose ist nach Aids der zweitgefährlichste Erreger, laut WHO starben 2010 1,4 Millionen Menschen an der Krankheit. Quelle: dpa
Polio/KinderlähmungPolio war bereits einmal beinahe ausgerottet – ein Mangel an Impfungen führte seit der Jahrtausendwende allerdings zu zahlreichen Neuerkrankungen. Vor allem in Afrika ist die Krankheit wieder auf dem Vormarsch, die WHO will mit Hilfe von Impfprogrammen dagegen vorgehen. Da sich der Erreger seit jeher kaum verändert hat, ist eine Ausrottung der Krankheit mittelfristig nicht unwahrscheinlich, die nötige Schluckimpfung ist kostengünstig und einfach umzusetzen. Quelle: dpa
SyphilisSyphilis ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die aktuell vor allem in Deutschland und Australien verbreitet ist. 2013 meldete das Robert-Koch-Institut 5017 Neuerkrankungen, das sind 600 mehr als im Jahr 2012. Syphilis ist durch die Gabe von Penicillin heilbar. Quelle: Gemeinfrei

Was sollte Ihrer Meinung denn passieren, um Masernausbrüche wie jetzt in Berlin oder vor zwei Jahren in Berlin, Bayern und dem Kölner Raum zu unterbinden?

Die Einschulung ist ja schon mal eine gute Gelegenheit, um abzufragen, wer überhaupt geimpft ist. Und dabei stellte sich zuletzt 2012 heraus, dass 96,7 Prozent der Schulanfänger zumindest eine der beiden Masern-Schutzimpfungen bekommen haben. 92,4 Prozent der i-Dötzchen hat sogar beide Impfungen erhalten – ist also sicher vor Masern geschützt. Damit haben wir zwar noch nicht die magischen 95 Prozent Durchimpfung erreicht, die nach epidemiologischen Erkenntnissen solche Epidemien unterbinden können. Aber die Impfraten bei den Kindern steigen in den letzten Jahren wieder kontinuierlich an.

Wo ist dann die Schwachstelle im System, wenn die Impfraten angeblich so toll sind?

Zum einen sind die Zahlen ein bisschen verfälscht, weil acht Prozent der Schulanfänger einfach keinen Impfpass vorweisen können. Diese vermutlich ungeimpften Kinder gehen nicht in die Statistik mit ein. Aber tatsächlich sind derzeit gar nicht diese jungen Kinder das Problem, sondern die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ungeimpft sind. Die älteren Erwachsenen ab Baujahr 1970 aufwärts haben meist noch die Masern selbst durchlebt, weil die Impfung noch nicht üblich war. Sie sind also auf natürlichem Wege immun und somit geschützt vor einer neuen Masern-Ansteckung. Aber bei diesen jüngeren Menschen, die seit 1970 geboren wurden, da bestehen die größten Impflücken.

Und wie wollen Sie dieses Problem lösen?

Also, wenn eine Fee durch mein Büro geschwebt käme und mir einen Wunsch erfüllen wollte, dann würde ich sie bitten, allen niedergelassenen Ärzten etwas ins Ohr zu flüstern. Nämlich, dass sie doch bitte regelmäßig Ihre Patienten nach deren Impfpass fragen sollen – und wenn sie ungeimpft und nach 1970 geboren sind, ihnen dann auch die Masern-Impfung zu empfehlen. Damit wäre schon viel gewonnen.

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