Dieser Fund wird Wirbel machen, so viel ist sicher: Denn zum einen finden Forscher nicht alle Tage ein neues Hormon - die meisten sind längst bekannt. Noch entscheidender: Das Hormon, das der US-Stammzellforscher Douglas Melton und sein Mitarbeiter Peng Yi von der Harvard-University entdeckten und über das sie jetzt in der Online-Ausgabe des Fachblatts "Cell" berichten berichten, kurbelt die natürliche Insulin-Produktion im Körper wieder an. Das könnte die Therapie der weltweit 371 Millionen zuckerkranken Menschen eines Tages dramatisch verbessern oder sie sogar wirklich heilen.
Menschen mit Diabetes, so der medizinische Begriff der Krankheit, fehlt das körpereigene Hormon Insulin, das Zuckermoleküle im Blut abbaut. Deshalb müssen sich Diabetiker vor den Mahlzeiten jeweils eine Dosis Insulin spritzen. Doch das ist umständlich und teuer: Die Behandlung der Diabetiker verschlingt jährlich geschätzte 471 Milliarden Dollar. Außerdem ist diese Therapie alles andere als optimal: Weil die Insulinmenge oft nicht exakt zur Essensmenge passt, schädigt der zu hohe oder zu niedrige Insulin-Spiegel auf Dauer Nieren, Nerven, Augen und Herz-Kreislaufsystem. So forderte die Krankheit nach Angaben der internationalen Diabetesvereinigung im Vorjahr 4,8 Millionen Todesopfer.
Insulin-Spritze ade
Mit den täglichen Spritzen, Folgeerkrankungen und Todesfällen könnte Schluss sein, wenn auch für Menschen gilt, was Melton und Yi an bei Mäusen heraus fanden: Denn das Hormon, das sie entdeckten und Betatrophin tauften, bringt die Insulin produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse dazu, sich 30-fach schneller zu vermehren. Die Idee: Sollte das Hormon, das auch im menschlichen Körper vorkommt, dort die gleiche Funktion haben, könne eine gezielte Betatrophin-Gabe einmal pro Woche, Monat oder Jahr bei Diabetikern mit Altersdiabetes - dem Typ 2 der Krankheit - dazu führen, dass ihre wenigen noch verbliebenen Beta-Zellen sich wieder vermehren. Dann könnte ihr Körper wieder selbst Insulin in ausreichender Menge herstellen, das Insulin-Spritzen hätte ein Ende.
Bei Menschen mit dem sogenannten juvenilen oder Typ 1-Diabetes, die etwa zehn Prozent aller Diabetiker ausmachen, ist noch nicht klar, ob Betatrophin Wirkung zeigen würden, denn bei dieser Form der Krankheit gehen fast alle Beta-Zellen allmählich zugrunde.
Hilfe zur Selbsthilfe
Sollte das allerdings klappen, wäre möglicherweise auch ein Fernziel der Stammzellforschung erreicht: Statt außerhalb des Körpers Stammzellen in Beta-Zellen zu verwandeln und sie in den Menschen zu transplantieren, könnte die Gabe des Hormons ausreichen, um körpereigene Stammzellen in Beta-Zellen zu verwandeln. Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen.
Wie aufwühlend die Entdeckung auch für die Forscher selbst war, schildert Yi so: "Ich saß da am Mikroskop und sah all diese sich replizierenden Beta-Zellen." Selbst an den Tag kann er sich genau erinnern, es war der 20 Februar 2010. Der Forscher traute seinen Augen kaum, sagt Yi: "Solch eine Vermehrungsrate hatte ich noch nie beobachtet." Er überlegte, ob er zur Sicherheit den Versuch wiederholen sollte, bevor er es seinem Chef Melton zeigen sollte. Doch dann ging er sofort zu ihm und zeigte ihm die Bilder, die er gemacht hatte.
Auch Melton erinnert sich gut an den Moment - und hat den Schwarz-Weiß-Ausdruck aufgehoben. "Wir haben inzwischen viel schönere Farbdrucke", sagt Melton. Aber er mag das Schwarz-Weiß-Bild so gerne, weil es ihn an die Situation erinnert: "Es war einer dieser Momente in denen man weiß, dass etwas sehr spannendes passiert." Seinem Mitarbeiter Yi legte er am nächsten Morgen einen Brief mit folgenden Worten auf den Tisch: "Lieber Peng, ich konnte kaum schlafen, so aufgeregt bin ich."
Wie die Karnickel
Tatsächlich ließen sich die Ergebnisse wiederholen. Und zunächst gaben Yi und Melton dem Hormon den Namen Rabbit. Denn die Beta-Zellen vermehrten sich sprichwörtlich wie die Karnickel.
Bis aus der Entdeckung des Hormons eine Therapie entsteht, werden allerding noch Jahre vergehen. Melton hofft: "Mit ein bisschen Glück könnte der Wirkstoff in drei bis fünf Jahren erstmals am Menschen getestet werden."
Bei dieser Entwicklung - vom Fund zum Medikament - setzen die Harvard-Forscher auf ein kleines, aber weltweit bekanntes deutsches Biotech-Unternehmen, die 1993 gegründete Hamburger Evotec. Das Unternehmen sicherte sich schon im Frühjahr 2011 die Vermarktungsrechte der neuen Therapie.