Herr Wissmann, Volkswagen hat manipuliert. Wie groß ist der Schaden für die deutsche Automobilindustrie?
Die Manipulation einer speziellen Motorsoftware zu Schönung von Abgaswerten ist ein Thema von Volkswagen. Die neue Führung wird die Vorfälle ganz entschieden aufklären und alles unternehmen, um das verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Einen dauerhaften Schaden für die Gesamtindustrie sehe ich nicht.
Zur Person
Wissmann,66, ist seit 2007 Präsident des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Der ehemalige CDU-Politiker war von 1993 bis 1998 Bundesverkehrsminister.
Können Sie denn ausschließen, dass auch andere deutsche Hersteller manipuliert haben?
Zulieferer und andere Hersteller haben erklärt, dass sie keine Software-Manipulation zur Schönung von Abgaswerten vorgenommen haben. Zuvor hatte es in den Unternehmen dazu intensive Prüfungen gegeben. Wir gehen fest davon aus, dass die Angaben stimmen; andere deutsche Hersteller haben die Software nicht manipuliert.
Beschädigt VW den Mythos „Made in Germany“
Dennoch sorgen sich viele Menschen in Deutschland um den guten Ruf „Made in Germany“. Ist dieser in Gefahr?
Der Skandal hat einen schweren Reputationsschaden für ein Unternehmen verursacht, aber das Label ‚Made in Germany‘ ist nicht in Gefahr. Das zeigt das Beispiel eines japanischen Herstellers. Das Unternehmen hatte Anfang des Jahrzehnts große Probleme in den USA, die sogar zu Befragungen im US-Kongress geführt hatten. Aber die Probleme haben das Image der japanischen Industrie nicht beschädigt, das betroffene Unternehmen ist wieder zurück im Markt. Auch Volkswagen kann wieder im Markt Vertrauen aufbauen, wenn es dem Unternehmen gelingt, die Kunden umfassend aufzuklären und die Schäden zu bereinigen.
Hat der Diesel denn überhaupt noch eine Zukunft, wenn man bloß mit illegalen oder legalen Tricks die gesetzlichen Vorgaben erreicht?
Es gibt keinen effizienteren Verbrennungsmotor als den modernen Diesel. Bei den ICCT-Messungen hat ein größeres und schweres Auto, der BMW X5, sehr gut abgeschnitten. Beim Euro-6-Diesel, der jüngsten Generation, sind Verbrauch und Schadstoffemissionen so niedrig wie nie zuvor. Selbst beim Ausstoß der Stickoxide werden mit der SCR-Technologie die Werte sowohl bei kleinen als auch bei großen Fahrzeugen um 90 Prozent gesenkt. Die Technik dafür ist teuer, aber effizient. Ich bin sicher: Der Diesel hat noch eine große Zukunft. Es gibt noch weitere Optimierungschancen.
Der VW-Abgas-Skandal im Überblick
Die US-Umweltbehörde EPA teilt in Washington mit, Volkswagen habe eine spezielle Software eingesetzt, um die Messung des Schadstoffausstoßes bei Abgastests zu manipulieren. In den Tagen darauf wird klar, dass weltweit Fahrzeuge von VW und der Töchter betroffen sind – darunter auch Audi und Porsche. Die VW-Aktie bricht ein.
VW-Chef Martin Winterkorn tritt nach einer Krisensitzung der obersten Aufseher zurück. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen VW. Anlass dafür seien auch eingegangene Strafanzeigen von Bürgern, heißt es.
Der VW-Aufsichtsrat tagt. Nach langer Sitzung beruft das Gremium Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Konzernchef und trifft einige weitere Personal- und Strukturentscheidungen. Verantwortliche Motorenentwickler werden beurlaubt.
Nach mehreren Strafanzeigen startet die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsvorwürfen. Entgegen einer ersten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braunschweig gibt es keine Ermittlungen gegen Ex-Chef Martin Winterkorn persönlich.
Das Aufsichtsrats-Präsidium beschließt, Hans Dieter Pötsch per registergerichtlichen Anordnung in den Aufsichtsrat zu berufen. Das ist möglich, weil mehr als 25 Prozent der Aktionäre Pötsch favorisiert haben. Die Familien Porsche und Piëch, die Pötsch gegen die Bedenken des Landes Niedersachsens und der Arbeitnehmer durchgesetzt haben, halten über die Porsche SE rund 52 Prozent der VW-Anteile. Julia Kuhn-Piëch, die erst dieses Jahr nach dem Rücktritt von Ferdinand und Ursula Piëch in das Kontrollgremium aufgerückt war, verlässt den Aufsichtsrat wieder.
Es ist klar, dass die betroffenen VW-Fahrzeuge in die Werkstatt müssen, damit die Schummel-Software verschwindet. Bei einigen Motorenwerden die Techniker selbst Hand anlegen müssen. Eine Rückruf-Aktion, so wird es am nächsten Tag bekannt werden, soll 2016 starten. Die geschäftlichen und finanziellen Folgender Krise sind nicht absehbar. Die Kosten der Abgas-Affäre werden jedoch enorm sein. Der neue Chef muss sparen: "Deshalbstellen wir jetzt alle geplantenInvestitionen nochmal auf denPrüfstand", kündigt Müller an.
Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ordnet einen verpflichtenden Rückruf aller VW-Dieselautos mit der Betrugssoftware an. In ganz Europa müssen 8,5 Millionen, in Deutschland 2,4 Millionen Wagen in die Werkstatt. VW hatte eine freiwillige Lösung angestrebt.
Der Skandal beschert dem Konzern im dritten Quartal einen Milliardenverlust. Vor Zinsen und Steuern beläuft sich das Minus auf rund 3,5 Milliarden Euro.
Der Skandal erreicht eine neue Dimension. VW muss - nach weiteren Ermittlungen der US-Behörden - einräumen, dass es auch Unregelmäßigkeiten beim Kohlendioxid-Ausstoß (CO2) gibt. Rund 800.000 Fahrzeuge könnten betroffen sein. Die VW-Aktie geht erneut auf Talfahrt.
Der Diesel-Skandal in den USA weitet sich aus. Erneut. Es seien mehr Drei-Liter-Diesel der Marken Volkswagen und Audi betroffen, als bislang angenommen, erklärt die US-Umweltbehörde EPA. Die Autobauer bestreiten dies zunächst. Wenige Tage später, am 24. November, müssen sie allerdings einräumen, ein sogenanntes „Defeat Device“ nicht offengelegt zu haben. Die Software gilt in den USA als illegal.
Die Auswirkungen des Skandal zwingen VW zudem zum Sparen: VW fährt die Investitionen für das kommende Jahr runter. 2016 sollen die Sachinvestitionen um eine Milliarde Euro verringert werden. „Wir fahren in den kommenden Monaten auf Sicht“, sagt VW-Chef Müller. Weitere Ausgaben bleiben auf dem Prüfstand.
Neuer Ärger für Volkswagen: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nun auch wegen mögliche Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit falschen CO2-Angaben. Die könnten dazu geführt haben, dass zu wenig Kfz-Steuer gezahlt wurde.
Zumindest etwas Positives für die Wolfsburger: Zur Nachrüstung der millionenfach manipulierten Dieselmotoren mit 1,6 Litern Hubraum in Europa reicht nach Angaben von Volkswagen ein zusätzliches, wenige Euro teures Bauteil aus. Bei den 2,0-Liter-Motoren genügt ein Software-Update. Das Kraftfahrtbundesamt genehmigt die Maßnahmen. Auch wenn VW keine Angaben zu den Kosten macht – es hätte schlimmer kommen können.
Kritiker fordern realistischere Abgastestverfahren. Dann dürfte es noch schwerer für die deutschen Premiumhersteller sein, die Grenzwerte von im Schnitt 95 Gramm CO2 pro Auto, die ab 2020 in der EU gelten, einzuhalten.
Die deutsche Automobilindustrie setzt sich seit langem für realistischere Abgastestverfahren ein. Wir arbeiten mit den Behörden eng zusammen. Der ständige Vorwurf, wir würden strengere Prüfkriterien bekämpfen, stimmt einfach nicht. Wir sind für den neuen Normzyklus WLTP und wir sind für die Einführung des RDE-Tests, der auch auf der Straße die Schadstoffemissionen misst. Aber wir müssen differenzieren: Ein Test auf dem Prüfstand ergibt rein physikalisch-technisch andere Werte als ein Test im Straßenverkehr. Ich vergleiche das mit einem Medizincheck: Ein EKG liefert im Liegen einen Ruhepuls, der viel niedriger ist als das Ergebnis beim Hochleistungsradfahren. Die deutschen Hersteller werden die künftigen Grenzwerte auch unter strengeren Tests einhalten. Aber eines hat die EU-Kommission erklärt: Das 95-Gramm-Ziel wurde auf Basis des NEFZ definiert. Die Einführung des WLTP wird nicht zu einer Verschärfung dieses Ziels führen. Darauf verlassen wir uns.
"Die Schwächen beim E-Antrieb sind längst ausgebügelt"
Die Autoindustrie will sich also strenger kontrollieren lassen? Wie glaubwürdig ist das?
Wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Es hat Tests auf der Straße gegeben, die gezeigt haben, dass einige Modelle sogar bessere Verbrauchswerte aufweisen als im Labor. Es geht uns darum, dass Testverfahren entwickelt werden, die für alle gleichermaßen gelten und den Kunden nachvollziehbare und realitätsnähere Werte liefern. Die Automobilindustrie hat den derzeitig gültigen NEFZ-Normzyklus übrigens nicht selbst entwickelt. Das ist eine gesetzliche EU-Vorgabe – und die gilt für alle, die neue Autos in der EU auf den Markt bringen.
Müssen die Hersteller jetzt beim E-Auto Tempo machen, weil es die einzige wirkliche Antwort auf die Emissionsprobleme ist?
Es ist eine Legende, dass die deutsche Autoindustrie ausschließlich auf den Verbrenner orientiert ist. Die Unternehmen investieren jedes Jahr 34 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Das entspricht einem Drittel der Forschungsausgaben der gesamten Industrie in Deutschland. Vor fünf Jahren lagen deutsche Hersteller in punkto Elektroantrieb noch auf den hinteren Plätzen. Die Schwächen beim E-Antrieb sind aber längst ausgebügelt. Bis Jahresende gibt es allein von den deutschen Herstellern 29 Elektroautos – rein batterie-elektrische, Plug-in-Hybride oder Wasserstoff- und Brennstoffzellenautos – auf der Straße. Die deutsche Automobilindustrie ist hier führend und dafür bereits 17 Milliarden Euro in jüngster Zeit investiert.
Mit welchen Hindernissen Elektroautos kämpfen
Noch sind die reinen E-Autos deutlich teurer als ihre Benzin-Pendants. Ein Beispiel: Der E-Golf von Volkswagen ist ab 35 000 Euro zu haben. Ein Golf mit vergleichbarer Ausstattung kostet nur 24 150 Euro. Doch das könnte sich ändern. Laut Berechnungen des Ingenieurbüros P3 sind Elektrofahrzeuge ab dem Jahr 2018 beim Preis wettbewerbsfähig, wenn nicht sogar im Vorteil. Dabei werden neue Batterien zu Grunde gelegt, die einen höheren Nickelanteil vorweisen.
Die Batterietechnologie, die für den Preis verantwortlich ist, ist auch der Grund für einen weiteren Knackpunkt: Für den E-Golf gibt Volkswagen eine Reichweite zwischen 130 und 190 Kilometern an. Für eine Fahrt in den Urlaub dürfte das kaum reichen, zumal die Zahl der Ladepunkte in Deutschland im Vergleich zu den herkömmlichen Tankstellen noch klein ist. Auch das dürfte sich aber mit der Weiterentwicklung der Batterietechnologie ändern.
Vor allem auf dem Land kann die geringe Reichweite zum Problem werden. Deutschland liegt laut der Nationalen Plattform Elektromobilität mit 4800 Ladepunkten an 2400 Standorten im internationalen Mittelfeld. Nach dem Willen der EU Kommission sollen bis 2020 in Deutschland 150 000 öffentlich zugängliche Ladestationen entstehen. Zum Vergleich: Laut ADAC lag die Zahl der herkömmlichen Tankstellen 2013 bei 14 328.
Smart-Chefin Annette Winkler spricht sich schon lange offen für eine Förderung von E-Autos aus. Das müssen nicht unbedingt finanzielle Anreize sein: Der Bundestag erlaubte jüngst Städten und Gemeinden, kostenlose Parkplätze für E-Autos zu reservieren und ihnen die Nutzung von Busspuren zu erlauben. Ob das ausreicht, zweifelt unter anderem VDA-Präsident Matthias Wissmann an. Er fordert finanzielle Impulse - wie zum Beispiel Sonderabschreibungsregeln für Firmenwagen. In anderen Ländern wie den USA, China oder Frankreich bekommen Käufer Cash vom Staat beim Kauf eines E-Autos.
Nach Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) rollten Ende 2014 knapp 19 000 reine E-Autos auf deutschen Straßen. Die Zahl der sogenannten Plug-In-Hybride, die die Bundesregierung zu den E-Autos zählt und die sowohl an der klassischen Tankstelle als auch an der Steckdose betankt werden, lag bei 108 000. Insgesamt waren 44,4 Millionen Pkw in Deutschland unterwegs. Das Ziel der Bundesregierung von einer Million elektrisch betriebenen E-Autos bis 2020 liegt damit noch in weiter Ferne. An der Auswahl kann es nicht liegen: Im vergangenen Jahr kamen laut Verband der Automobilindustrie (VDA) 17 neue Serienmodelle mit Elektroantrieb auf den Markt. 2015 sollen noch einmal zwölf weitere hinzukommen. Selbst der elektroskeptische Porsche-Chef plant offenbar mit einem E-Auto: Zuletzt schloss Müller nicht mehr aus, dass das bis Ende des Jahrzehnts geplante nächste Porsche-Modell rein elektrisch betrieben wird.
Es gibt kein „entweder Verbrenner oder Elektromotor“. Die deutschen Automobilhersteller investieren seit Jahren in mehrere Bereiche: in die Optimierung der Benziner- und Dieseltechnik, in alternative Antriebe wie Elektro und Brennstoffzelle und in die Digitalisierung der Mobilität. Das vernetzte und automatisierte Fahren ist ja das zweite große Zukunftsthema, wie die IAA gezeigt hat.
In allen Bereichen haben die deutschen Hersteller heute eine Spitzenposition inne.
Die Kosten für die Batterietechnik sinken stetig und liegen heute deutlich niedriger als prognostiziert. Brauchen die Hersteller wirklich noch Kaufanreize für Elektroautos?
Die weitere Reduzierung der Produktionskosten von Elektroautos ist ein strategisches Ziel der deutschen Automobilindustrie. Daran arbeiten Hersteller und Zulieferer intensiv. In den nächsten zwei bis drei Jahren liegen die Kosten aber noch über denen der Verbrennungsmotoren. Wir schlagen zeitlich begrenzte Anreize vor, sprich: ein Drei-Jahres-Programm mit Abschreibungsvorteilen. Auch andere steuerliche Impulse, etwa bei den Betriebskosten oder der Einkommensteuer, wären möglich. Nur so kann sich Deutschland zu einem Leitmarkt für Elektromobilität entwickeln.
Hinter vorgehaltener Hand kritisieren Vorstände von Auto-Konzernen das Krisenmanagement des VDA. Die Konzerne fühlten sich „alleine gelassen“. Ist die Kritik berechtigt?
Wir stehen als deutsche Automobilindustrie völlig geschlossen da. Glauben Sie nicht irgendwelchen Gerüchten.