Werbung ist der letzte Strohhalm des generischen Produktes, doch noch ein Fünkchen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Marke mit Persönlichkeit aufzuladen. Alle sprechen von 'Marken-Persönlichkeit'. Gerade in der Werbung aber scheint sie ein Tabu zu sein. Ohne Charakter versinkt die Werbung jedoch in der Bedeutungslosigkeit.
Wenn das Marketing schon nicht das Produkt mit Relevanz und Innovation aufladen darf, so sollte doch zumindest die Marke in der Werbung Individualität, Persönlichkeit und Charakter ausstrahlen.
Die 9 Sargnägel der Werbung
1. Fehlende Individualität
Individualität zusammen mit Relevanz ist der Kern des Ganzen. Klar. Warum aber bewerben dennoch fast alle eben nicht das eigene Produkt, sondern die komplette Branche, den Preis, oder eben trotzig gar nichts? "Wir leben Autos", "Das Auto"? "Geil ist geil"? "Wir lieben es"?
Die Individualität des Produktes gehört formuliert und in der Werbung ausgesprochen.
2. Fehlender Charakter
Erst Charakter gibt der Individualität Qualität.
a. Erkennbar Stellung beziehen: in drei Dimensionen eine Meinung, ein starkes Rückgrat und den Mut, erstere zu äußern, haben: I. in Gesellschaft, II. Politik (im Sinne alles, was dort draußen passiert, ist Politik) und III. last, but not least Wirtschaft.
b. Eine Meinung haben: eine differenzierte Meinung innerhalb des 'Broader Brand Team' aus Marketing, Management, Agentur zu bilden. Die Persönlichkeit der Marke muss (gerne auch kontrovers) diskutiert werden. "Wenn alle gleich denken, denkt keiner wirklich viel", wie Walter Lippmann sagte. Die Persönlichkeit einer Marke darf ruhig komplex sein - nicht jedoch kompliziert - umso faszinierender wird sie sein. Der Charakter besteht aus der Ehrlichkeit, Zustände zu kritisieren, Lösungen anzubieten, zu handeln.
3. Fehlende Klarheit
Wer Charakter hat, spricht unbequeme Wahrheiten klar und offen aus. Nein, "Wir leben Autos" oder "Wir bewegen Menschen" ist das Gegenteil einer klaren Aussage.
Nur mit einem extrovertierten Charakter, der sagt, was er denkt, kann sich der Konsument identifizieren. Nur an Ecken und Kanten kann der Konsument hängenbleiben, Gefallen, Vorlieben und Bindung, Loyalität entwickeln.
Provokant und polarisierend
4. Fehlender Kontext
Charakter braucht Kontext. Denn erst in schwierigen Situation zeigt sich der wahre Charakter. Der richtige zeitliche, räumliche, inhaltliche Kontext hilft der Identifikation mit den Helden, indem er Parallelitäten - oder Sehnsüchte - zur Lebenswelt der Konsumenten offeriert. So funktioniert Weltliteratur, jede Story, der gute Spot.
Oft denke ich, das ausgeschaltete Holo-Deck der Enterprise oder der Cube aus dem gleichnamigen Film bietet mehr Kontext als manche Werbung irgendeines Bad-, Toiletten-, Haushalts-Reinigers. Gerade die langweiligsten Spießer-Eltern in entsprechenden Klamotten und mit entsprechenden Spießer-Kindern jeden Alters im Set einer beliebigen Süßigkeit zu platzieren, ist äußerst kontraproduktiv. Die Lebenswelt der Menschen ist eine andere, wie man am quietschbunten Wohnzimmersofa jeder Doku-Soap sieht. Und sich selbst wiedererkennen, kann man gerade in artifiziellen Laborsituationen nicht.
Ikea z.B. ist selbst der grandiose Kontext seiner Produkte. Bis hin zum Schwedisch des Off-Sprechers. Während alle anderen lieber Kirmes-Losverkäufer in weißen Kitteln oder mit übergroßen Brüsten für ihre Produkte sprechen lassen.
5. Fehlende Bedeutung
Gerade mit der Ersatzbefriedigung kann man fehlende Relevanz nicht ausgleichen. Kittel und Busen wärmen nur kurz. Ohne tieferen Sinn wird keine nachhaltige Leidenschaft für eine Marke entstehen können. Alles bleibt beliebig und austauschbar. Heute Katzenberger, morgen Gina-Lisa, übermorgen vergessen.
6. Fehlende Reibung
Gerade Leidenschaft braucht Wärme, braucht Funken, Feuer. Reibung erzeugt Funken, die überspringen auf den Konsumenten. Dieser Funke erst verwandelt den Konsumenten zur Zielperson. Man fühlt sich angesprochen. Und andere eben nicht.
7. Fehlende Reibungsfläche
Deshalb sollte man nicht allein auf die eher taktische Reibung setzen, sondern strategisch eine charakter-affine nachhaltige Reibungsfläche anbieten, die herausragender Teil der Werbe- (besser noch der Marken-)Persönlichkeit wird. Das kann man platt machen wie MediaMarkt oder intelligent wie Apple.
8. Fehlende Polarisierung
Wichtig ist, die Reibungsfläche so provokant zu gestalten, dass sie polarisiert. Denn erst die Ablehnung bestimmter Gruppen sorgt für die größere Loyalität, vielleicht sogar bedingungslose Liebe anderen Gruppen, idealerweise der von Ihnen avisierten Zielgruppe. Ein Beispiel: Alle erinnern sich an den guten alten Dr. Best, niemand erinnert sich an die vielen austauschbaren Gesichter hinter den anderen Zahnbürsten.
9. Fehlende Groupies, Fans, Tribes
Die treuesten Fans entstehen aus einem unergründlichen Mix aus kulthafter Verehrung des 'eigenen' Produktes und kategorischer Ablehnung anderer Marken, Produkte und ihrer Protagonisten. Religionen, Terroristen und manche Politik nutzt dies zum Negativen, im Grunde ist es aber eine der stärksten Triebfedern unseres Handelns. Wir wollen lieben und geliebt werden, wir wollen zu Gruppen dazugehören. Wir wollen uns abgrenzen. Wir wollen Vorbilder und beliebt sein. Als Menschen und als Marken.
Werbung muss dies wieder erkennen - statt es allen recht machen zu wollen. Werbung muss die Menschen wieder bei ihren Gefühlen, ihrer Einzigartigkeit, ihren Trieben und Sehnsüchten packen - statt an ihrem Geldbeutel.