Karl-Heinrich Thiele wird den sonnigen Frühlingstag im März 2012 nie vergessen. Sein Steuerberater hatte ihm offenbart, dass sein Unternehmen am Ende war. Seit sechs Jahren führte Thiele Karlshütte. Sein Großvater hatte die Gießerei, die Pumpenteile, Zylinderköpfe oder Zahnräder für die Industrie herstellt,1949 gegründet. "Ich will doch nicht derjenige sein, der nach drei Generationen den Betrieb zumacht", sagte er sich.
Der Steuerberater hatte einen Trost für Thiele: ESUG. Das Kürzel steht für das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, das wenige Wochen später in Kraft trat. Kern der Reform: Unternehmer, die rechtzeitig Hilfe suchen, erhalten mehr Einfluss auf den Verlauf des Insolvenzverfahrens, können vor Gläubigerforderungen unter einen Schutzschirm fliehen und ihre Firma im besten Fall selbst aus der Krise steuern.
Erfolgreiche Sanierung durch Eigenverwaltung
Unterstützt von Sanierungsberater Jochen Vogel aus der Düsseldorfer Kanzlei Buchalik Brömmekamp, macht Thiele als einer der Ersten Gebrauch von den ESUG-Möglichkeiten. Anders als beim regulären Insolvenzverfahren konnte Thiele und nicht ein vom Gericht eingesetzter Insolvenzverwalter weiter die Geschäfte führen. Heute ist Karlshütte erfolgreich saniert.
Seit Frühjahr vermelden gestrauchelte Unternehmen im Wochentakt, dass sie das Schutzschirmverfahren durchlaufen oder sich per Eigenverwaltung sanieren wollen. Unter ihnen fanden sich prominente Namen wie die Schuhkette Leiser, die Nachrichtenagentur dapd oder die Solarunternehmen Solarwatt und Sovello.
Doch ist eine solche Sanierung in Eigenregie überhaupt die richtige Lösung? Oder werden Pleitekandidaten durch das ESUG nur ein paar Monate länger am Leben erhalten – zur Freude des Geschäftsführers und zulasten der Gläubiger?
Bisher 26 erfolgreiche Fälle
Zehn Monate nach dem ESUG-Start liegt der WirtschaftsWoche exklusiv eine erste Leistungsbilanz des neuen Insolvenzrechts vor. Die Experten der Online-Plattform Insolvenz-Portal haben dafür die Veröffentlichungen deutscher Amtsgerichte zu Firmenpleiten ausgewertet. Das Resultat: 124 Mal beantragten Unternehmen 2012 Schutzschirm- oder Eigenverwaltungsverfahren. 26 Fälle wurden erfolgreich abgeschlossen oder stehen kurz vor dem Finale. 29 ESUG-Fälle wurden in reguläre Insolvenzverfahren überführt. In den übrigen Verfahren ist der Ausgang noch offen.
Spektakuläre Möglichkeiten
"Die Bilanz ist zweigeteilt", urteilt Jens Décieux, Geschäftsführer der Betreibergesellschaft des Insolvenz-Portals. Einerseits würden die neuen Sanierungsinstrumente genutzt. Die Zahl der ESUG-Anmeldungen "ist beachtlich, und es gibt etliche Verfahren, die sehr schnell erfolgreich abgeschlossen wurden", so Décieux. Andererseits "ist aber auch die Zahl von Fällen hoch, bei denen die ESUG-Instrumente scheitern". Schon werden Stimmen laut, die Nachbesserungen fordern. Denn das ESUG hat auch das Machtgefüge im Pleitewesen ins Wanken gebracht.
Während altgediente Insolvenzverwalter hinter den Kulissen vor einem "Sittenverfall" warnen, schwärmen Rechtsberater von der Reform. "Teilweise sind die Möglichkeiten spektakulär", lobt etwa Alexander Schröder-Frerkes, Managing Partner der Wirtschaftskanzlei Bird & Bird in Düsseldorf. "Innerhalb der Eigenverwaltung sind grundlegende Strukturänderungen möglich, Schulden können in Beteiligungen am Unternehmen getauscht werden, die Möglichkeiten für einen Börsenrückzug oder für Kapitalerhöhungen wurden erleichtert."
Erheblicher Betreuungsbedarf
Was ändert sich am Insolvenzrecht?
Die Gläubiger sollen mehr Rechte bekommen und so beispielsweise Einfluss auf die Auswahl des Insolvenzverwalters bekommen. Auch bei der Anordnung der Eigenverantwortung soll ein Gläubigerausschuss mitbestimmen können. Die Meinung des Gläubigerausschusses soll unter gewissen Umständen für den Richter bindend sein.
Nach neuem Recht hat ein Schuldner eine dreimonatige Schonfrist, bevor der Kuckuck anklopft. Sobald die Zahlungsunfähigkeit am Horizont auftaucht, kann der Schuldner unter Aufsicht eines vorläufigen Sachverwalters in Eigenverwaltung einen Sanierungsplan ausarbeiten. Anschließend kann der Plan als Insolvenzplan umgesetzt werden. In dieser Zeit ist der Schuldner vor seinen Gläubigern geschützt, Gerichte sollen eventuelle Zwangsvollstreckungen vorläufig einstellen können. So soll der Schuldner die Chance bekommen, sein Unternehmen zu sanieren, ohne dass ihm schon die Maschinen aus der Fabrik getragen werden.
Dank der Gesetzesreform soll sich künftig nur noch ein Insolvenzgericht pro Landgerichtsbezirk mit den Unternehmens- und Verbraucherinsolvenzen beschäftigen.
Damit auch bei Insolvenz Finanztransaktionen ordentlich zu Ende gebracht werden, soll die Rolle von Clearinggesellschaften gestärkt werden. Solche Clearinghäuser sind dafür zuständig, im Finanzsektor gegenseitige Forderungen und Verbindlichkeiten festzustellen und Wertpapiertransaktionen zu verbuchen. Ihnen kommt eine Art Treuhänderfunktion zu.
Die Insolvenzstatistiker sollen mehr Rechte bekommen: Künftig stehen der Ausgang von Insolvenzverfahren sowie belastbare Angaben über die finanziellen Ergebnisse in der Statistik. Dazu gehören zum Beispiel die Zahl der erhaltenen Arbeitsplätze und die Höhe der Gelder, die die Gläubiger bekamen.
Einziges Manko: Die zuständigen Amtsgerichte würden "derzeit noch sehr unterschiedlich" mit ESUG-Anträgen umgehen, hat Bird-&-Bird-Partner Stefan Gottgetreu beobachtet. Zudem sei der Beratungsbedarf für Unternehmen, die die ESUG-Instrumente nutzen wollen, erheblich. "Schon die Pflichtangaben beim Antrag haben es in sich. Macht die Geschäftsführung hier Fehler, kann das schnell teuer werden oder sogar strafrechtliche Konsequenzen haben", sagt Schröder-Frerkes.
Im Fall der Schuhkette Leiser/Schuhhof lief alles glatt. Die Gruppe aus Augsburg flüchtete im April 2012 unter den Schutzschirm. Das Management konnte weitermachen, wurde aber von dem Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz beaufsichtigt. "Das Unternehmen hatte die falschen Standorte, zahlte zu hohe Mieten und hatte einen Wasserkopf in der Zentrale", sagt Geiwitz. Die Kosten mussten runter, Filialen wurden geschlossen, Leute entlassen.
Grundsätzlich sei die Reform ein richtiger Schritt, sagt Geiwitz. Die Verfahren würden kalkulierbarer. "Weder Schuldner noch Gläubiger konnten sich früher darauf verlassen, dass das Gericht einen Verwalter bestellt, der auf Fortführung des Unternehmens setzt." Diese Angst vor dem Kontrollverlust galt als eine der Hauptursachen für zu späte Antragstellungen, die dann oft zur Abwicklung der Unternehmen führten.
Selbstverwaltung ist nur bei kurzfristigen Problemen sinnvoll
Denn so sinnvoll die Eigenverwaltung in vielen Fällen auch ist, sie ist kein Allheilmittel. Bei Unternehmen, bei denen nicht nur kurzfristige Zahlungsschwierigkeiten den Bestand gefährden, sondern sich seit Jahren Probleme häufen, kann ein klassischer Insolvenzverwalter oft härtere Schnitte durchsetzen als das Management.
In Fällen, bei denen die Gefahr besteht, dass Geld veruntreut wurde, Interessenkollisionen vorliegen oder den Gläubigern zusätzliche Verluste drohen, verbietet sich die Eigenverwaltung ohnehin. Doch "die Reform des Insolvenzrechts hat Insolvenzverfahren anfälliger für Missbrauch gemacht", heißt es beim Verband der Insolvenzverwalter Deutschlands. Umstritten ist die Rolle externer Sanierungsberater.
Berateransturm sorgt für Existenzängste
Sie werden oft von den betroffenen Unternehmern angeheuert und ziehen in die Geschäftsführung ein, um im Rahmen einer ESUG-Insolvenz die Sanierung zu leiten. Laut Gesetz sollen sie zwar von einem Sachwalter beaufsichtigt werden. Der Düsseldorfer Insolvenzverwalter Dirk Andres hat jedoch beobachtet, dass Sanierungsberater ihren Sachwalter oft gleich mitbringen. "Das ist einerseits positiv, weil die Beteiligten eng zusammenarbeiten müssen", so Andres, "andererseits gerät die Unabhängigkeit schnell in Gefahr."
Die neue Liaison zwischen Banken, Sanierungsberatern und Sachwaltern wird mit Argwohn verfolgt. "Bei vielen Kollegen weckt der Berateransturm fast schon Existenzängste", sagt Geiwitz. Verschärft wird die Furcht durch das flaue Geschäft. Die Zahl der Unternehmenspleiten ging in Summe um rund fünf Prozent zurück, geht aus der Erhebung des Insolvenz-Portals hervor. Demnach wurden 2012 insgesamt 15.045 Insolvenzverfahren über Kapital- und Personengesellschaften eingeleitet.
Noch bestimmen die etablierten Verwalterkanzleien das Geschehen (siehe Tabelle). Ob auf ESUG-Insolvenzen spezialisierte Kanzleien wie Buchalik Brömmekamp bald in die Runde vorstoßen? Zumindest die Sanierung der Karlshütte taugt als Referenz für weitere Mandate.