Autobauer in der Vertrauenskrise VW und der „Anschlag auf den Standort Deutschland“

EU-Parlamentspräsident Schulz sieht durch die Abgasmanipulation bei VW das Vertrauen in den Standort Deutschland gefährdet – auch wenn die Kanzlerin widerspricht. Im Umfeld von VW fällt nun sogar das Wort Existenzkrise.

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Der SPD-Politiker spricht von einem Anschlag auf den Standort Deutschland. Quelle: dpa

Berlin, Stuttgart, Wolfsburg Im Abgas-Skandal bei Volkswagen hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz den Autobauer mit scharfen Worten attackiert. „Das war ein Anschlag auf den Standort Deutschland, auf viele tausend Kunden und Arbeitnehmer“, sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). „Es ist kaum zu fassen, was da mit Fahrlässigkeit und möglicherweise sogar krimineller Energie gemacht wurde.“ Schulz forderte die rasche Einführung neuer Prüfverfahren, die Kontrollen müssten schärfer werden. Zugleich unterstrich Schulz, VW sei „ein starker Konzern (...), der alle Chancen hat, die Krise zu überstehen“.

Der EU-Parlamentschef forderte, die Schuldigen rasch juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. „Ob Volkswagen, ob Deutschland verlorenes Vertrauen zurückgewinnt, entscheidet sich auch bei der Aufarbeitung des Skandals.“ Zudem betonte Schulz: „Unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung sieht das Aktien- und Gesellschaftsrecht grundsätzlich eine Managerhaftung mit Privatvermögen vor.“ Mögliche Abfindungs- oder Bonusforderungen von VW-Managern seien „völlig unverständlich“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hält den Schaden für die deutsche Wirtschaft durch den Skandal derweil für begrenzt. Es sei zwar ein einschneidendes Ereignis. „Ich glaube aber, dass die Reputation der deutschen Wirtschaft, das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft damit nicht so erschüttert ist, dass wir nicht weiter als ein guter Wirtschaftsstandort gelten“, sagte Merkel in einem am Sonntag veröffentlichten Interview des Deutschlandfunks. Volkswagen müsse allerdings nun schnell Transparenz herstellen und die Dinge aufarbeiten. Der Konzern hat zugegeben, Abgaswerte bei Dieselfahrzeugen mit einer Software manipuliert zu haben. Nach Konzernangaben sind weltweit bis zu elf Millionen Fahrzeuge betroffen.

Einem Zeitungsbericht zufolge liegen auch erste Geständnisse vor. Wie die „Bild am Sonntag“ unter Berufung auf die interne Revision des Autobauers berichtete, sollen mehrere VW-Ingenieure bei Befragungen ausgesagt haben, sie hätten 2008 die Manipulations-Software installiert. „Wir kommentieren diese Berichte nicht“, sagte ein VW-Sprecher dazu am Sonntag. Das Unternehmen treibe die Aufklärung der Geschehnisse voran. „Sobald wir belastbare Ergebnisse haben, werden wir darüber informieren.“

Zum Vorreiter für härtere Kontrollen in der gesamten Branche könnte Baden-Württemberg werden. Das Bundesland, in dem die Großkonzerne Daimler und Porsche sowie zahlreiche Automobilzulieferer ihren Sitz haben, möchte Autobauern künftig mit unangekündigten Prüfungen auf den Zahn fühlen. „Wir brauchen im Verkehr so etwas wie die unangemeldeten Dopingkontrollen“, sagte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. „Das heißt, dass die Messungen ohne Vorankündigung stattfinden sollen, damit sich niemand vorbereiten kann.“

Solche Pläne will Hermann in einem eigenen Messprogramm für Baden-Württemberg verwirklichen. Das Programm solle so schnell wie möglich starten, sagte er. „Wir wollen, dass auf der Straße gemessen wird und nicht nur im Labor.“ Bei solchen Labor-Tests hatte Volkswagen eine Schummelsoftware eingesetzt und Abgaswerte verfälscht. Die Pläne für die eigenen Test begründete Hermann auch damit, dass man das Feinstaub- und Stickoxidproblem unbedingt in den Griff bekommen wolle.

Der Minister kritisierte erneut die Bundesregierung. Die habe bisher mit Teilen der Autoindustrie die Reform des Messzyklus torpediert. „Wir müssen das Messverfahren RDE voranbringen.“ Die Abkürzung RDE heißt „real-driving emissions“, es geht also um tatsächliche Emissionswerten und nicht um Schadstoffausstoß unter Laborbedingungen.


Pötsch spricht von Existenzkrise

Zugleich warnte Hermann davor, den Diesel als Antrieb generell infrage zu stellen. Diesel bleibe ein wichtiger Bestandteil, um ehrgeizige Klimaschutzziele zu erreichen, sagte der Grüne. „Er sollte daher optimiert und nicht abgeschafft werden.“ Die Probleme müssten aber dringend gelöst werden. „Ich bin mir sicher, dass dies mit der deutschen Ingenieurskunst zu schaffen ist.“

Konsequenzen für den Diesel an sich gibt es in Großbritannien. Dort werden Subventionen für Diesel-Fahrzeuge in Frage gestellt. Premierminister David Cameron sagte der Zeitung „The Sunday Telegraph“ laut Vorabbericht, dass seine Regierung es für möglich halte, die Fördermittel zu überprüfen. 2001 hatte der damalige Finanzminister Gordon Brown niedrigere Steuern für Dieselfahrzeuge in der Annahme beschlossen, dass sie die Umwelt weniger verschmutzen. Mit Blick auf Volkswagen, sagte Cameron, es sei „falsch von dem Autobauer gewesen, die Regeln zu brechen“. In Spanien zahlt VW die Subventionen bereits zurück. Das Land hatte Verbraucher beim Kauf eines schadstoffarmen Autos mit 1000 Euro je Fahrzeug unterstützt.

Der designierte VW-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch sieht den Autobauer einem Medienbericht zufolge wegen des Abgasskandals in einer äußerst prekären Lage. Pötsch habe bei einer internen Veranstaltung in Wolfsburg von einer „existenzbedrohenden Krise für den Konzern“ gesprochen, berichtete die Zeitung „Welt am Sonntag“ vorab. Demnach sei er aber sicher, das „kriegen wir hin“, wenn alle mitzögen. Dem Bericht zufolge steht auch das geplante Investitionsbudget von mehr als 100 Milliarden Euro bis 2018 auf dem Prüfstand. Da sei viel Luft zum Sparen, zitierte die Zeitung einen Insider. Auch im Sommer 2014 gestartete Effizienzprogramme sollten noch mal verschärft werden. VW lehnte eine Stellungnahme ab.

Allmählich verdichtet sich auch die Geschichte hinter dem Skandal. Laut „Bild am Sonntag“ (BamS) befand sich der Dieselmotor EA 189, an dem bei VW seit 2005 gearbeitet worden war, kurz vor der Serienreife. Es sei aber keine Lösung gefunden worden, wie sowohl die Abgasnormen als auch die Kostenvorgaben für den Motor eingehalten werden konnten. Daher sei die Entscheidung gefallen, die Manipulations-Software zu verwenden, hätten die Ingenieure gegenüber der internen Revision zu Protokoll gegeben. Unklar sei aber weiterhin, wer die Anweisung für die Installation der Manipulations-Software gab.

Wie das Blatt weiter berichtet, sei für die Manipulation der Abgaswerte auch eine Software des Zulieferers Continental verwendet worden und zwar für die kleinere 1.6-Liter-Variante. Conti-Sprecher Felix Gress sagte der Zeitung: „Wir hatten keine Hinweise auf einen Missbrauch unserer Technik. Die uns von uns gelieferte Software konnte keine Abgaswerte manipulieren.“ Bei VW wollte man sich auch zu dieser Frage nicht äußern.

In der VW-Belegschaft wachsen unterdessen die Sorgen. „Natürlich gibt es Ängste, wie sich die Situation weiterentwickelt“, sagte Betriebsratschef Bernd Osterloh der „BamS“. „Es gibt aber auch Wut über die, die uns das eingebrockt haben. Wir lassen nicht zu, dass die Kollegen die Zeche zahlen.“

Nach Informationen der „Automobilwoche“ (Montag) will der Konzern ungeachtet des Abgas-Skandals an seinen Absatzzielen für 2016 festhalten und verspricht seinen Vertriebspartnern Hilfen. Dies habe Thomas Zahn, Leiter Vertrieb und Marketing Deutschland VW Pkw, in einem vertraulichen Brief zugesichert. Allerdings weise man in Wolfsburg darauf hin, dass aufgrund der außergewöhnlichen Situation im Laufe der Zeit noch Anpassungen erforderlich sein könnten, zitierte das Blatt einen Händler.

Schwierig ist die Lage zumindest auf dem wichtigen US-Markt. Viele Jahre haben die Wolfsburger im Land der schweren Pick-ups und bulligen Geländewagen mit ihren Golfs und Passats kaum einen Fuß auf den Boden bekommen. Mitte des Jahres deutete sich zaghaft eine Trendwende an - und dann kam „Dieselgate“. Ist es möglich, sich nach dem Abgas-Skandal wieder aufzurappeln?

„Die nächsten zwei, drei Monate werden entscheidend sein“, sagt Analyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler. „Dann können wir erahnen, wie groß die Krise in den USA für Volkswagen wird.“ Der durch die Affäre erzwungene Verkaufsstopp für zahlreiche Diesel-Autos in den USA dürfte VW hart treffen, die Modelle zählen zu den wenigen Absatzstützen in den USA. Jeder vierte verkaufte VW-Neuwagen im nach China größten Automarkt der Welt war bisher ein Diesel.

Die große Frage ist jetzt, wie sehr der Imageschaden auch auf die Benziner durchschlagen wird. „Dieser Schwindel könnte das Vertrauen zerstören, das sich Volkswagen über Jahre aufgebaut hat“, heißt es in der renommierten „New York Times“.

Den Zorn der Amerikaner wird VW-US-Chef Michael Horn direkt zu spüren bekommen: Er muss an diesem Donnerstag (8. Oktober) vor dem US-Kongress antreten und sich vor den Abgeordneten erklären. Anders als bei so manchem Untersuchungsausschuss in Deutschland wurden dort Chefs von Autoherstellern wie GM oder Toyota für folgenschwere Pannen schon geradezu gegrillt. Viel zu gewinnen gibt es für VW da nicht.


In den USA nichts überstürzen

Dabei tut sich Volkswagen ohnehin schwer genug, richtig punkten konnte die Marke bei US-Autokäufern nie. Die Dauerbaustelle USA war dem Vernehmen nach einer der Gründe, warum Patriarch Ferdinand Piëch im Frühjahr „auf Distanz“ zum inzwischen zurückgetretenen Konzernchef Martin Winterkorn gegangen war. Der mächtige VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh hatte das US-Geschäft der Kernmarke im vergangenen Jahr gar als „Katastrophenveranstaltung“ bezeichnet.

Künftig dürfte Osterloh seine Worte über den VW-Auftritt in den USA sehr genau abwägen. Er vertritt auch die mehr als 2000 Arbeitnehmer im US-Werk Chattanooga und die rund 15.000 Kollegen am mexikanischen Standort Puebla, wo auch für den nordamerikanischen Markt produziert wird. Und die Rufe nach einem Durchgreifen in den Vereinigten Staaten könnten lauter werden - jetzt, wo auf den Konzern eine Kostenlawine wegen Massen-Rückrufen, Strafzahlungen, Anwaltshonoraren und möglicherweise auch Schadenersatz-Ansprüchen zurollt.

„Ein Komplettausstieg der Marke Volkswagen-Pkw in den USA sollte in Erwägung gezogen werden“, schreibt NordLB-Analyst Frank Schwope. Vor 2007 habe der Konzern jahrelang Verluste in Nordamerika eingefahren, seitdem veröffentliche VW keine Ergebnisse mehr für Nordamerika. Ein VW-Sprecher in Wolfsburg sagte, der Konzern liefere grundsätzlich keine Gewinnkennziffern zu einzelnen Ländermärkten. Schwope vermutet, dass eher Verluste als Überschüsse in den USA zu Buche stehen.

Metzler-Autoexperte Pieper hält einen radikalen Schnitt aber für verfrüht. „Das wäre eine Option, wenn VW wirklich mit dem Rücken zur Wand steht“, sagt er. „Ein so großer Hersteller wie VW kann es sich eigentlich nicht leisten, sich aus den USA zurückzuziehen.“ Während die Töchter Audi und Porsche auch dort Erfolge feiern, gilt die Modellpolitik von VW als verfehlt. „Es ist ganz einfach zu erkennen, was der US-Käufer will“, sagt Pieper. „Große Autos. SUVs, Pick-ups - im Massenmarkt nicht zu teuer. VW hat das viel zu lange ignoriert.“

Im September kam Volkswagen in den USA mit einem Mini-Absatzplus von 0,6 Prozent im Jahresvergleich noch einigermaßen glimpflich davon. Doch die Abgas-Täuschungen wurden erst Mitte des Monats bekannt, und insgesamt boomt der US-Markt wie seit Jahren nicht mehr. Die meisten anderen großen Hersteller fuhren zweistellige Zuwachsraten ein.

Spannend wird es schon im nächsten Monat. Denn in den USA werden Neuwagen meist direkt vom Hof der Autohändler verkauft und nicht - wie in Deutschland üblich - erst auf Kundenwunsch im Werk geordert. Für VW dürfte es deshalb zunächst deutlich schneller nach unten gehen als vielleicht irgendwann wieder aufwärts.

Der neue Konzernchef Matthias Müller gibt sich kämpferisch: „Ich will der Welt zusammen mit Ihnen beweisen, dass Volkswagen das Vertrauen der Menschen verdient“, sagte er am Montag in einer Rede an Führungskräfte. Und dann: „Das wird ein schwerer Weg - und es wird Rückschläge geben.“ Zunächst aber soll Müller, so fordert es der Aufsichtsrat laut einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, bald in die USA fliegen und Reue zeigen - möglichst bevor auch er vor den Kongress zitiert wird.

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