Wer sich in Peking mit dem Auto in Richtung Südbahnhof aufmacht, konnte noch vor wenigen Jahren sicher sein, außerhalb des Berufsverkehrs gut durchzukommen. Vormittags ab neun Uhr herrschte auf den großen Stadtautobahnen meist freie Fahrt.
Vorbei. Auf der zweiten, dritten und vierten Ringstraße stehen die Autos heute Stoßstange an Stoßstange, und das fast den ganzen Tag über. In den U-Bahnen der chinesischen Hauptstadt sieht es kaum besser aus. Von früh bis spät stehen die Fahrgäste dicht gedrängt in den Waggons. Dazu ist die Luftverschmutzung oft so groß, dass das Atmen schwerfällt. Pekings Probleme kommen nicht überraschend: Jedes Jahr ziehen mehr als 100.000 Chinesen auf der Suche nach einem besseren Leben vom Land in die Hauptstadt. Mehr als 1.000 neue Fahrzeuge werden in Peking jeden Tag zugelassen. Die Stadtplaner stehen deshalb vor riesigen Herausforderungen.
In anderen Metropolen der Welt sieht es kaum anders aus. Ob in Mittel- und Südamerika, auf dem indischen Subkontinent oder in Afrika: Die Hoffnung auf etwas mehr Wohlstand und eine höhere Lebensqualität zieht Menschen in die Städte.
Siemens-Chef soll Konzern bis 2014 an Weltspitze führen
Wachstumsmarkt Städte
Ein Trend, von dem der deutsche Technologiekonzern Siemens profitieren will: Vor zwei Jahren gründete Vorstandsvorsitzender Peter Löscher den neuen Unternehmensbereich Infrastructure & Cities (I&C). Neben den drei bestehenden Bereichen Healthcare, Energy und Industry soll I&C den Planern der großen Ballungsräume Lösungen aus einer Hand zur Bewältigung ihrer Probleme anbieten. Und im Gegenzug sollte daraus für Siemens eine sprudelnde Einnahmequelle werden: „Der Sektor Infrastructure & Cities eröffnet uns zusätzliche Geschäftschancen auf dem Wachstumsmarkt Städte“, sagte Löscher im September 2011. Mit viel Pomp eröffnete er 2012 in London den Bau The Crystal, wo die Münchner Lösungen für nachhaltige Stadtentwicklung präsentieren.
Die Euphorie ist verflogen: Statt von Chancen ist bei Siemens heute von Krisenbewältigung die Rede, wenn das Gespräch auf I&C kommt. „Was die Marge angeht, ist der Sektor ein Rohrkrepierer“, sagt ein Aufsichtsrat. Bei mageren 6,3 Prozent lag die operative Marge des Geschäftszweigs im letzten Geschäftsjahr. Zum Vergleich: Der Sektor Healthcare kam im gleichen Zeitraum auf 13,3 Prozent.
Noch schlimmer: Zwischen Oktober und Dezember, dem ersten Quartal des Geschäftsjahres 2013, sackte die Marge in dem Geschäftsfeld sogar auf 4,9 Prozent. Auch die auf unbestimmte Zeit verschobene Auslieferung von 16 ICE-Zügen an die Deutsche Bahn schlägt hier zu Buche.
Siemens Baustellen
Und in den ersten drei Monaten des neuen Jahres sah es kaum besser aus, wird im Konzern gemunkelt. Konjunktureller Gegenwind und Restrukturierungskosten, die durch den Verkauf des Geschäfts mit Paket- und Briefsortieranlagen sowie Gepäckabfertigungssystemen anfallen, drücken aufs Geschäft. Für die Sparten suchen die Münchner derzeit Käufer. Für das Geschäftsjahr 2014 rechnet Siemens zudem mit weniger Großprojekten – und einem weiteren Rückgang des Wachstums bei I&C.
Ganz unerwartet kamen die Probleme nicht: Von Anfang an hatte es Zwist um die Gründung des neuen Geschäftszweigs gegeben. Als 2010 die Vorbereitungen begannen, stellte sich Heinrich Hiesinger, damals zuständiger Vorstand des Sektors Industry, kategorisch gegen die Pläne, berichtet ein Insider. Kurze Zeit später verließ Hiesinger den Konzern, um Chef bei ThyssenKrupp zu werden. Löscher hatte danach freie Bahn: Er habe den Aufbau des vierten Sektors vorangetrieben, auch um seine Macht bei Siemens zu festigen, heißt es. Jeder der anderen Geschäftszweige musste bei der Neugründung Bereiche und Zuständigkeiten abgeben.
Siemens-Chef Löscher: "Die Prognose steht"
Entsprechend wild zusammengewürfelt wirkt der neue Bereich heute: Videoüberwachungs- und Alarmanlagen, Hochgeschwindigkeitszüge und Schaltkästen für Stromnetze gehören genauso zum Portfolio wie Verkehrsleitsysteme und Gepäckförderanlagen. Analysten wie Heinz Steffen von Fairesearch in Frankfurt lästern bereits über „Peters Resterampe“. Steffen: „Eine Stadt ordert doch nicht von der Straßenbahn über die Gebäudesicherung bis zum Umspannwerk alles bei einem Anbieter, das vergeben doch die einzelnen Dezernate an verschiedene Unternehmen.“ Beim Konkurrenten General Electric wurden ähnliche Pläne darum Ende des vergangenen Jahrzehnts aufgegeben – Konzernchef Jeff Immelt stoppte die Gründung der Sparte in letzter Minute: Das schaffe nur zusätzliche Bürokratie, so sein Urteil.
Chancen in Schwellenländern
Dabei bietet die Urbanisierung vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern große Wachstumschancen für einen Technologiekonzern wie Siemens. Vor zehn Jahren lebten beispielsweise erst 40 Prozent der 1,3 Milliarden Chinesen in Städten, heute sind es 52 Prozent. Die Planer in den Metropolen stellt das vor immer größere Probleme. In Chinas Hauptstadt könnte es schon in wenigen Jahren nicht mehr genug Trinkwasser geben. In Indiens rasch wachsenden Großstädten fällt immer häufiger der Strom aus. Roland Busch, der bei Siemens den Bereich I&C leitet, ist deshalb nach wie vor überzeugt, dass der Modernisierungsbedarf der Megametropolen Perspektiven bietet. „Nachhaltigkeit darf nicht als Luxus für die wohlhabenden Städte in den Industrienationen gelten“, sagt der gelernte Physiker.
Busch setzt vor allem auch auf Beratung der Metropolen. Sein Argument: Die Münchner müssten schon in der Planungsphase mit am Tisch sitzen, um hinterher Aufträge abräumen zu können. Kritiker wenden dagegen ein, mit der weltweiten Verschärfung der Compliance-Regeln sei es für Städte heute nahezu unmöglich, Großprojekte an nur einen Anbieter zu vergeben. Hinzu kommt: Der Aufbau des nötigen Beratungs-Know-hows braucht Zeit. Das wissen auch die Mitarbeiter der Siemens-Sparte I&C: „Wir sind Langstreckenläufer und keine Sprinter“, sagen sie.
Die Kassen sind leer
Zu den vergaberechtlichen Problemen kommen finanzielle: In vielen Städten, vor allem den europäischen, sind die Kassen leer. In Berlin etwa lebe man von der Hand in den Mund, sagt ein für Wirtschaft und Stadtplanung zuständiges Senatsmitglied. „Für große Lösungen, wie Siemens sie vorschlägt, ist kein Geld da, selbst wenn sie Kosten sparen.“ Und auch wenn die Mittel vorhanden wären: Bei solchen Auftragsvolumina müsste Berlin europaweit ausschreiben. Abgesehen davon bevorzugen die Kämmerer der Hauptstadt ohnehin die kleinteilige Vergabe, um die örtliche Wirtschaft zu stärken.
Auch auf dem wichtigen chinesischen Markt läuft es für I&C-Chef Busch längst nicht mehr rund. Seit das Eisenbahnministerium vor zwei Jahren von einem Korruptionsskandal erschüttert wurde, lahmt das Geschäft mit Hochgeschwindigkeitszügen. Außerdem sitzt auch bei den Chinesen das Geld nicht mehr so locker wie noch vor einigen Jahren. Viele Kommunen und Städte haben sich hoch verschuldet und bekommen nun Druck von der Zentralregierung und den Banken.
Aktionärsstruktur Siemens
Die Familie hat insgesamt 6 % der Aktien inne.
Die restlichen 94 % sind in Streubesitz.
Darum muss Busch jetzt sparen. Seit Löscher seinen Aktionären versprach, die konzernweite Gewinnmarge von zuletzt knapp acht Prozent auf zwölf Prozent im Jahr 2014 zu steigern, regiert in München der Rotstift. Ob Löschers Vorgabe erreicht wird, ist dennoch zweifelhaft: Arbeitnehmervertreter berichten, Busch habe kürzlich vor Mitarbeitern in Erlangen eingeräumt, sein Sektor werde die zwölf Prozent nicht schaffen − was aber kein Problem sei, denn der Sektor sei ja noch jung. Mittelfristig werde I&C die obere Hälfte des vorgegebenen Margenbandes von acht bis zwölf Prozent erreichen.
Dem Spardiktat zum Opfer fallen werden auf jeden Fall gut 300 Arbeitsplätze in Leipzig, die zu Buschs Beritt gehören. Dort fertigt Siemens Schaltkästen, die Produktion ist seit Jahren defizitär. Doch dabei dürfte es nicht bleiben: Derzeit überprüfen Busch und seine Manager gezielt das Portfolio, künftig werde man sich auf das Kerngeschäft konzentrieren. Eisenbahnprojekte, die Gebäudetechnik und der Bau von Stromnetzen gehören dazu.
Es regiert der Rotstift
Die Zeit drängt: Verfehlt Löscher sein Zwölf-Prozent-Ziel, dürfte die leidige Diskussion um den Chefposten bei Siemens wieder losbrechen. Der Konzernumbau, so scheint es, dürfte darum viel weiter gehen, als bisher angenommen. Von Zusammenlegungen und Verlagerungen von Geschäftseinheiten seien in diesem Jahr allein in Deutschland rund 10.000 Arbeitsplätze betroffen, berichtet ein Insider. 1.400 Stellen sollen bis zum kommenden Jahr ganz wegfallen, davon etwa 1.000 im Sektor Energy. Betroffen ist unter anderem der Standort Mülheim an der Ruhr, wo Siemens Gasturbinen fertigt. Im Energiegeschäft will der Konzern künftig viele Aktivitäten nach Asien verlagern. Betroffen sein sollen neben Leipzig auch die Standorte Erlangen und Offenbach.
In den nächsten Tagen können Löscher und Busch noch mal an höchster Stelle die Werbetrommel rühren: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsident Wladimir Putin wollen beim Bummel über die Hannover Messe auch am Siemens-Stand vorbeischauen.