Die vierte industrielle Revolution erscheint meist bei weitem nicht so revolutionär, wie manch einer das geglaubt haben mag: In unseren Fabriken stehen immer noch Maschinen, unsere Ingenieurskunst ist nach wie vor gefragt und der Werksleiter steuert weiterhin anstelle eines Algorithmus die Produktion.
Für den Beobachter ergibt sich ein unübersichtliches Bild, denn die Realität und die mit der Industrie 4.0 verbundenen Erwartungen scheinen nicht zusammen zu passen. Manch einer glaubt gar, dass wir den Wettlauf um die digitale Vernetzung in der Industrie verschlafen würden.
Ich halte dagegen: Wir sind auf dem besten Wege, zum Weltmarkführer beim Internet der Dinge zu werden. Warum? Weil wir verstanden haben, dass digitale Daten die Zukunft unserer industriellen Wertschöpfung sind. Weil die Vorstände der Industrieunternehmen diese Erkenntnis mit großem Tatendrang in neue Anwendungen und Lösungen umsetzen. Und weil wir hervorragende Maschinen und Produkte herstellen, die als Grundlage für die datenbasierten Geschäftsmodelle von morgen dienen.
Über den Autor
Frank Riemensperger, Jahrgang 1962, ist Vorsitzender der Accenture-Ländergruppe Deutschland, Österreich, Schweiz. Der Experte für komplexe IT-gestützte Business Transformationen ist verantwortlich für die Weiterentwicklung nachhaltiger Marktstrategien und den Ausbau der Geschäftstätigkeiten in den deutschsprachigen Ländern, wo Accenture gegenwärtig über 7000 Mitarbeiter beschäftigt. Riemensperger ist zudem Vize-Präsident der American Chamber of Commerce in Germany (AmCham), sitzt im Bitkom-Präsidium und im Senat der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech.
Das wirkt wie eine Wette auf die Zukunft, verbunden mit etwas Lokalpatriotismus? Dieser Eindruck täuscht. Die deutsche Industrie hat tatsächlich beste Aussichten darauf, den Weg hin zur Industrie 4.0 zu meistern – vorausgesetzt, sie bewältigt die nächsten erforderlichen Schritte. Denn letztlich geht es darum, drei Stufen auf dem Weg hin zur datengetriebenen Wertschöpfung zu meistern.
Von der vernetzten Maschine zur digitalen Wertschöpfung
Die erste Stufe ist die Vernetzung von Maschinen und Produkten, mit dem Ziel, Daten zu erheben und Transparenz über Fertigungsabläufe herzustellen, um klügere – sprich: effizienter – Entscheidungen treffen zu können. Diesen Schritt auf dem Weg zur Industrie 4.0 haben viele Unternehmen bereits erfolgreich gemeistert. Sie haben Maschinen und Produkte digital um- und aufgerüstet ans Internet angeschlossen und begonnen Betriebsdaten zu erheben und zu sammeln. Dies übrigens sogar auch für ältere Maschinen, die mittels günstiger Nachrüst-Bausätze „digitalisiert“ werden.
Die zweite Stufe ist die Nutzung der gewonnenen Daten für mehr Effizienz in der Produktion und zur Vermeidung von ungeplanten Ausfällen der im Einsatz befindlichen Maschinen. Mit einer ausreichend großen Datenbasis ist die Vorhersage von Ausfällen dank intelligenter Algorithmen fast ein Kinderspiel. Unter dem Stichwort ‚Predictive Maintenance‘ kommen all die Lösungen auf den Markt, die statt fester Wartungsintervalle für Maschinen den tatsächlichen Verschleiß von Bauteilen und Komponenten betrachten. Das alles ist nur möglich, weil die Daten aus den Sensoren permanent über eine Datenbank in Echtzeit analysiert werden und so genaue Prognosen ermöglichen.
Außerdem liefern die Auswertung der Betriebsdaten und die damit erreichte Transparenz zahlreiche weitere Vorteile für Unternehmen: Die Produktionsplanung wird flexibler, die gesamte Lieferkette kann darauf abgestimmt und ineffiziente Prozesse – wie etwa ein hoher Stromverbrauch oder unnötige Laufzeiten – vermieden werden. Die Nutzungsdaten von Produkten bieten wertvolle Hinweise zur Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit im Einsatz.
Weiterhin entstehen neue Ansätze im Vertrieb, die ohne Daten nicht möglich wären. Wurden früher einzelne Produkte verkauft – man rufe sich den dicken Papierkatalog des Vertreters in Erinnerung – werden nun konkrete Ergebnisse für den Kunden vermarket. Nehmen wir ein Beispiel: Einige Anbieter von Flugzeugturbinen verkaufen heute Flugstunden statt einzelner Triebwerke zum Stückpreis. Die Sensordaten aus der Turbine geben Aufschluss darüber, wann ein Triebwerk gewartet werden muss und wie der Treibstoffverbrauch weiter gesenkt werden kann. Der Hersteller verkauft also kein Produkt, sondern ist auch für den Betrieb, die Wartung, Leistungssteigerung und Kosteneffizienz verantwortlich.
Künstliche Intelligenz und Plattformen brauchen Daten
Solche As-a-Service-Modelle werden weiterhin ganze Industriesektoren von Grund auf verändern. Die Kunden profitieren, weil sie geringere Anschaffungs- und Wartungskosten sowie bessere Planbarkeit haben; der Anbieter hat umso höhere Einnahmen, je zuverlässiger eine Maschine bestimmte Leistungen erbringt. Zudem hat er Zugriff auf die Nutzungsdaten und kann sein Angebot ganz individuell auf die Bedürfnisse des Kunden zuschneiden und das Produkt weiter optimieren.
Auch diese Stufe ist heute bereits vielerorts Realität und Praxis – auch wenn viele Unternehmen noch mit Pilotprojekten und Feldversuchen experimentieren, die jeweiligen Technologien also noch nicht überall in der eigenen Organisation oder für neue Produkte und Dienstleistungen nutzen. Letzteres hat auch damit zu tun, dass die Daten meist noch nicht aus ihren „Silos“ befreit wurden; zudem denken Hersteller häufig noch immer zu stark in Produkten und zu wenig in übergreifenden Lösungen. Aber der Wandel ist angestoßen, die Richtung ist klar, und der geschäftliche Nutzen eindeutig.
Viele sehen die ‚Industrie 4.0‘ mit der zweiten Stufe erreicht – und vergessen dabei, dass die eigentliche Verheißung der Digitalisierung noch aussteht: die Daten zum Aufbau ganz neuer Geschäftsmodelle zu nutzen sowie Abläufe, Produkte und Dienstleistungen mittels Künstlicher Intelligenz wirklich ‚intelligent‘ zu machen. Ein häufig genanntes Stichwort sind in diesem Zusammenhang digitale Plattformen: Sie sind der zentrale Dreh- und Angelpunkt für die Daten aus der Industrie.
Wer seine Maschinen und Produkte an Plattformen anbindet, profitiert von einem vielfältigen Ökosystem aus Lösungen, Diensten und Technologien, die die Veredlung der eigenen Daten erst ermöglichen. Im Wettrennen um die Industrie 4.0 sind Plattformen die entscheidenden Bausteine, denn sie sind die Grundlage neuer digitaler Geschäftsmodelle, die nicht allein auf Effizienzsteigerung vorhandener Prozesse abzielen. Vielmehr geht es darum, aus der Kombination unterschiedlichster Daten ganz neue Zusammenhänge zu erschließen und diese in Lösungen für den Kunden zu vermarkten.
Daten sind auch entscheidend für die weitere Verbesserung der Künstlichen Intelligenz, seien es nun Industrieroboter oder selbstlernende Algorithmen. Machine Learning benötigt möglichst vielen Daten, die intelligenten Maschinen immer autonomere Entscheidungen ermöglichen und sie eine im jeweiligen Kontext gewünschte Handlung ausführen lassen. Dafür sind übrigens weniger die Algorithmen entscheidend: Die Intelligenz einer Maschine hängt vor allem von einer möglichst breiten Datengrundlage ab. Der Algorithmus selber besitzt keinen Wert, die Daten dagegen schon.
Zusammengefasst, bedeutet das: Die Datenrevolution rollt – und die deutsche Industrie kann zu den Gewinnern dieses Umsturzes gehören. Mit hervorragenden Produkten, der einzigartigen Forschungslandschaft und dem neuen ‚digitalen Spirit‘ sind wir für die Zukunft bestens gerüstet. Der Anfang ist bereits gemacht. Jetzt gilt es, die digitalen Geschäftsmodelle von morgen aus den Pilotprojekten in echte Anwendungen zu überführen.