An einem schwülheißen Vormittag Anfang August steht Bätes Indienstatthalter Patel in einem der Großraumbüros in der dritten Etage des Hauptgebäudes. Lässig an die Wand gelehnt, begrüßt er seine Mannschaft. Der tiefe Teppich schluckt beinahe jedes Geräusch, an den Wänden hängen Uhren für sechs Zeitzonen und die Schlagworte aus Bätes Modernisierungsstrategie: „Grundsätzlich digital“, „technische Exzellenz“, „der Kunde im Mittelpunkt“. In Trivandrum ist es schlicht nicht möglich, der pastellfarbenen Grafik mit den Kernpunkten der Bäte-Agenda zu entkommen. In der Lobby des Allianz-Gebäudes, an den Pfeilern in den Großraumbüros, an den Wänden hinter den Sitzgruppen zum Ausruhen.
Digital or dead: So überleben Sie die digitale Zukunft
Die Digitalisierung wird mittelfristig das Kerngeschäft der meisten Unternehmen beeinflussen. Führungskräfte müssen analysieren (lassen), wie sich die Spielregeln für ihre Branche verändern und die einzelnen Herausforderungen zu ihrer persönlichen Agenda machen.
Quelle: Digital or dead von Serhan Ili und Ulrich Lichtenthaler
Viele Firmen konzentrieren sich darauf, vor allem die Effizienz ihrer Produktion durch neue Technologien zu stärken. Wer sich aber ausschließlich auf technologiegetriebene Effizienzsteigerung konzentriert, verschenkt in Zukunft Wachstumschancen. Denn diese entstehen durch digitale und analoge Innovationen.
Führungskräfte müssen besonders vielversprechende digitale Lösungen für ihr Unternehmen identifizieren. Wenn sie ein oder mehrere Tools in der engeren Auswahl haben, sollten sie das Ausprobieren der Software im Unternehmen fördern.
Neben dem kurzfristigen Ausprobieren müssen Unternehmen auch langfristig für ihre IT-Zukunft planen. Schließlich sollen die neuen Softwarelösungen, die zum Geschäftsmodell passen, auch in die bestehende Unternehmens-IT integriert werden.
Der Ausgangspunkt der Digitalisierungsinitiative sollte keinesfalls die IT sein. Vielmehr sollten die damit befassten Entscheider zunächst ein klares Bild davon haben, welchen Nutzen die Digitalisierung dem Unternehmen bringen sollte. Auf dieser Grundlage sollte alsdann zunächst ein passendes Geschäftsmodell für die digitalen Aktivitäten entwickelt werden, bevor dieses dann innerhalb der IT tatsächlich umgesetzt wird.
Eine zentrale Gefahr für Industrieunternehmen ist das Auftreten neuer Komplettlösungsanbieter wie Uber, die direkt an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten und diese besetzen. Umgehen kann man diese Gefahr mit der Entscheidung für eine interne Digitalisierungslösung.
Eine Stelle wie die des CDO zu schaffen, der die Digitalisierungsbemühungen koordiniert, ist sehr hilfreich. Der Chief Digital Officer braucht aber auch genügend Macht und Einfluss innerhalb des Unternehmens. Wenn sein Posten nur eine Alibifunktion innehat, nützt das wenig.
Über die koordinierende Funktion des Chief Digital Officers hinaus beinhaltet die Digitalisierung eines Unternehmens üblicherweise weitere, größere Veränderungen, die ein gewisses Maß an Beteiligung des ganzen Unternehmens erfordert. Die Unternehmenslenker müssen eine überzeugende Digitalisierungsgeschichte entwickeln, um die Einsatzbereitschaft aller Beteiligten sicherzustellen.
Unternehmen müssen bewegliche und flexible Innovationsprozesse anstoßen und weiterentwickeln - zumindest als Ergänzung für traditionellere, systematische Prozesse. Darüber hinaus ist es unabdingbar, ganze Produktlösungen innerhalb des geschäftlichen Umfelds zu optimieren, anstatt nur einzelne Produktspezifika zu verändern.
Digitalisierung erfordert neue Kompetenzen und beinhaltet oft die Veränderung bekannter und bewährter Geschäftsmodelle. Daraus folgt, dass Unternehmen offen für Hilfe von außen, nämlich von Digitalisierungsexperten, sein sollten, um den größtmöglichen Nutzen aus Innovation und den dazugehörigen Kompetenzen ziehen zu können.
Rund 300 Programmierer tüfteln hier an einer neuen Version der Plattform Allianz Business System (ABS). ABS ist eine der wichtigsten Anwendungen der Allianz. Mit dem Programm erstellen Mitarbeiter rund um den Globus Policen, etwa für eine Kfz- oder eine Hausratversicherung, errechnen die Prämien für die Versicherung und bearbeiten Schäden. Bislang hatten die etwa 70 Landesgesellschaften alle mehr oder weniger ihre eigene Version des Systems. Bäte aber will nicht mehr, dass die Allianzer etwa in Frankreich, Indonesien oder Brasilien jeder für sich vor sich hin wurschteln. Er will die Systeme, so weit es geht, vereinheitlichen. Bäte will Transparenz, will Vergleichbarkeit herstellen, natürlich auch Synergien heben. Eine Kfz-Police, so sein Kalkül, ist ein Standardprodukt. Warum braucht da jede Allianz-Gesellschaft ihre eigene Version?
Momentan sitzen sie in Trivandrum in langen Reihen in ihren Cubicles und arbeiten daran, die Systeme für sieben osteuropäische Länder zusammenzuführen. Einige Mitarbeiter haben sich kleine Poster mit ihren Lieblings-Fußballclubs neben die Computer geklebt. Auf dem Bildschirm eines Programmierers bauen sich die Flaggen von Bulgarien, Kroatien, Rumänien, Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei auf. Patel ist gekommen, um zu schauen, wie weit seine Leute sind. Im Oktober will die Allianz die nächste Stufe des neuen Systems für Osteuropa scharf stellen: die Kfz-Versicherung für Rumänien. Der Programmierer zeigt Patel die Textfelder und Grafiken der neuen Version. Schlank, minimalistisch, übersichtlich kommt das System daher. „Schon bald haben wir Osteuropa komplett ausgerollt“, verspricht der Indienchef, „und dann“, fügt er rasch hinzu, „kommen weitere Regionen der Welt dazu.“
Das ist der neue Trend bei den Münchnern. Viel enger müsse man bei der Allianz künftig zusammenarbeiten, findet Turan Sahin. Seit gut fünf Jahren steht er nun in Diensten der Allianz-Tochter Allianz Technology und sorgt unter anderem dafür, dass sämtliche Allianz-Gesellschaften rund um den Globus immer die Technologie zur Verfügung haben, die sie brauchen. Head of Global Delivery Network lautet sein Titel. Sahin ist gewissermaßen für den weltweiten Nachschub zuständig. „Die Einheiten“, sagt er, „die bisher allein unterwegs waren, müssen zusammenrücken.“
Nicht alle im weitverzweigten Allianz-Reich finden das gut. Wo man zusammenrückt, herrscht auf einmal Vergleichbarkeit. Manche Manager, etwa die Chefs von Landesgesellschaften mit eher durchschnittlichen Leistungen, haben daran wenig Interesse. Wo man zusammenrückt, fallen unter Umständen auch Hierarchieebenen und Zuständigkeiten weg. Manch einer fürchtet um seine Privilegien.
Im Frühjahr dieses Jahres drohte der Streit zu eskalieren. Einzelne Allianz-Führungskräfte machten hinter den Kulissen Front gegen Bätes Reformagenda. Einige unschöne Geschichten sickerten nach außen, die Bäte in schlechtem Licht darstellten. Der Allianz-Chef versprach daraufhin, seine vielen Initiativen künftig besser zu erklären. Am Ehrgeiz seiner Vorgaben etwas zu ändern versprach er aber nicht. Fakt ist, dass die Allianz in ihren bisherigen Strukturen nicht zukunftsfähig ist. Bäte weiß, dass im Versicherungsgeschäft, so wie es in den vergangenen Jahrzehnten betrieben wurde, die Zeiten mit kräftigen Wachstumsraten vorbei sind. Entsprechend drängt die Zeit.
Für Sahin, den globalen Nachschubkoordinator, ist die Sache ohnehin klar: „Die Zeit der Diskussionen ist vorbei“, sagt er, „jetzt wird umgesetzt.“ Und dann fügt Sahin einen Satz an, den er als stellvertretend für die Stimmung auf der Arbeitsebene gewertet haben möchte: „Es ist nicht Olivers Agenda, es ist unsere gemeinsame Agenda.“