Arbeitsmarkt Fünf Mythen der modernen Arbeitswelt

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Je weniger Chefs, desto besser?

Anders gesagt: Die Digitalisierung der Arbeit wird von der Politik vertagt. Und so halten sich hartnäckig vor allem Mythen über die Arbeitswelt der Zukunft:

Mythos 1: Mehr Flexibilität macht Angestellte freier

Immer wenn ein neuer Monat beginnt, geht für Georgia Palmer die Planung los. Die 26-Jährige arbeitet als Kurierfahrerin für Foodora. Dort kann sie flexibel neben dem Studium arbeiten. 9,50 Euro bekommt sie für jede Stunde, in der sie auf dem Fahrrad Essenslieferungen ausfährt. Sie muss dafür weder in ein Büro gehen, noch muss sie einen Stundensoll erfüllen.

Tipps für digitale Nomaden

Der Arbeitsplan wird per Algorithmus zugeteilt. Zwar können die Fahrer Wunsch-Schichten angeben, doch wer wann arbeitet, das ist unklar.  „Ich weiß nie, wie viel ich arbeiten werde und wie viel Geld ich damit verdienen kann. Oft bekomme ich nicht genug Schichten zugeteilt und versuche dann mit anderen Fahrerinnen zu tauschen“, sagt sie. Darunter leidet vor allem das Privatleben.

Denn sobald der neue Einsatzplan kommt, muss sie das restliche Leben drumherum basteln. Nachmittage, an denen sie arbeiten wollte, werden plötzlich zur Leerlauf-Zeiten. Andere Verabredungen muss sie absagen, weil der Algorithmus das so will.

Am meisten ärgert die Studentin jedoch, dass all diese Organisation in ihrer Freizeit stattfindet. „Ich muss mich permanent darum kümmern, für das Unternehmen eingesetzt werden zu können. Das passiert nebenher und kostenlos“, sagt sie. Und jedes Mal, wenn sie die Termine in ihrem Kalender für die Arbeit umdisponiert, denkt die moderne Arbeiterin: Freiheit sieht anders aus.

Mythos 2: Je weniger Chefs, desto besser

Was Angestellte wollen ist eindeutig: 80 Prozent aller Fachkräfte in Deutschland wünschen sich flache Hierachien. Wie die Unternehmensberatung Kienbaum ermittelt, ist das auch gut begründet. 61 Prozent der Firmen, die mit wenigen Hierarchieebenen auskommen, sind aus Sicht ihrer Mitarbeiter besonders innovativ.

Doch die Studie zeigt auch, was dazugehören muss. So wünschen sich zwei Drittel aller Angestellten zumindest eine Führungskraft, die die Richtung vorgibt. Das heißt: Flache Hierarchien funktionieren als Struktur für Innovationen nur so lange klar ist, wohin es gehen soll. Es sollte zumindest jemanden geben, der Ziele vorgibt. Auf dem Lösungsweg kommen die Mitarbeiter dann auch ohne Chef aus. Und dabei werden sie erfinderisch.

Als Nicolaj Armbrust alle Hierarchien abschaffte, wollte er sein Unternehmen retten, eine Online-Vermittlungsplattform für Ferienwohnungen. Innerhalb weniger Jahre wuchs das Drei-Mitarbeiter-Start-up zum 100-Mann-Betrieb heran. Jede Entwicklungsstufe brachte mehr Struktur in Armbrusts Unternehmen. Vor zwei Jahren entschied er daher, aller Führungspositionen abzuschaffen. Inklusive seiner eigenen.

Knigge für das Großraumbüro

In den ersten Monaten nach der Umstellung waren die Mitarbeiter orientierungslos. Eine Handvoll Leute verließ die Firma; ihnen war die neue Freiheit zu anstrengend. Die Übrigen forderten Leitplanken. Armbrust reagierte erneut – und gibt nun wenigstens die strategischen Ziele vor. Den Weg dorthin überlässt er aber weiter seinen gleichberechtigten Mitarbeitern.

Kann es das tatsächlich geben: zu viel Freiheit im Berufsleben? Jedenfalls „mussten wir uns professionalisieren, um profitabel zu werden“, sagt Frauke von Polier, Personalchefin des Online-Modehändlers Zalando. Als das Unternehmen 2008 an den Start ging, herrschte praktisch Anarchie. Sie passte Prozesse, Abläufe und IT-Systeme an, organisierte die Buchhaltung, legte Hierarchien fest – brachte Ordnung in das Chaos. Am Ende war „die alte Start-up-Kultur, in der jeder mitmischen und sich selber seinen Platz suchen konnte, nicht mehr da“, sagt von Polier. Seither ist sie auf der Suche nach einer kulturellen Synthese aus Start-up und Old Economy: Jeder wird gehört, aber nicht zu jeder Zeit.

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