Dienstreise nach Berlin. In dieser Sekunde beiße ich in einen Kinderriegel. Ein Milka Nussini habe ich auch schon intus. Immerhin gab es einen Salat zum Mittag. Dennoch ist meine Kalorienbilanz in diesem Jahr eine Katastrophe. Zu fett, zu süß, zu viel Brot und Butter. Wäre halb so wild, wenn ich – wie bis zum vergangenen Jahr – mindestens zweimal die Woche Sport machen würde. Aber wann? Und mit welcher Energie?
Als ich im Januar wieder mit dem Pendeln begann, standen schon Lauftermine bis zum Februar im Kalender. Ein detaillierter Trainingsplan war das, mit dem Ziel, im Mai einen Marathon zu laufen.
Diese Termine fielen dem neuen Leben als Erstes zum Opfer. Genauso wie regelmäßige Tennisduelle mit einem guten Kumpel. Wann sollten wir spielen? Abends wird es dunkel, morgens kümmere ich mich um meine drei Kinder oder sitze im Zug, und am Wochenende holt man nach, was unter der Woche liegen blieb. Flaschen zum Altglascontainer, Reinigung, Frisör.
Zum Autor
Claas Tatje ist verheiratet und hat drei Kinder zwischen eins und vier. Er wohnt in Hannover und arbeitet als Redakteur im ZEIT-Wirtschaftsressort in Hamburg. 2014 erschien sein Fahrtenbuch des Wahnsinns – Unterwegs in der Pendlerrepublik. Seitdem lässt ihn das Thema nicht mehr los.
Das Fatale ist, dass ich mich daran gewöhnt habe. Ich vermisse den Sport kaum. Aus dem Marathon wurde schließlich ein Halbmarathon, und damit mein Scheitern nicht allzu sichtbar wurde, habe ich mich als Wasserträger meiner Frau ausgegeben (die genauso wenig Zeit hatte zur Vorbereitung).
Wenn ich mit meinem relativ luxuriösen Pendlerleben (Gleitzeit, Bahnfahrten im ICE, später Arbeitsbeginn) schon nicht zum Sport komme, wie geht es dann einem Bäckergesellen, der vom Land in die Stadt fährt und die Backstube auf- und zuschließen muss? Einem Bandarbeiter, der jeden Morgen im Stau steckt? Einer Verkäuferin, die von zehn bis 20 Uhr im Laden steht?
Für die meisten wird es nur einen Ausweg geben: Man muss einen Teil der Pendlerstrecke zum Sport nutzen. Ein Freund von mir lebt in Berlin und arbeitet in Potsdam. 20 Kilometer davon fährt er mit dem Rad, die andere Hälfte mit der S-Bahn. Diese kleine Anstrengung wird ihm viele Arztbesuche ersparen. Martin Halle, ärztlicher Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin an der TU München, hat einmal gesagt: "Drei- bis viermal wöchentlich 30 Minuten Rad fahren verlängert das Leben eines gesunden Menschen um bis zu zehn Jahre."
Die ganze Latte der Zivilisationskrankheiten – von Rückenschmerzen, Burnout und Kopfschmerzen bis hin zu Depressionen – verdoppelt oder verdreifacht sich für Pendler, die mindestens 30 Minuten am Tag für eine Strecke unterwegs sind. In Deutschland sind das derzeit über acht Millionen. Zahnarzttermine, Hausarztbesuche und Vorstellungen beim Dermatologen werden regelmäßig versäumt oder verschoben.
Die vergebliche Hatz zur U-Bahn
Es gibt sogar viel zitierte Studien, wonach Pendeln so anstrengend sein kann wie das Fliegen in einem Kampfjet. Kann das stimmen? Ich mache den Test. Mit meiner Pulsuhr verkabelt, bringe ich erst meine Tochter in den Kindergarten und versuche dann den nächsten Zug nach Hamburg zu erwischen.
In der Spitze schlug mein Herz 150 mal in der Minute. Das war in dem Moment, als ich der U-Bahn hinterherrannte und sie gerade nicht mehr bekam. Schon vorher lief mir der Schweiß den Nacken runter, denn die Tochter wollte trotz Regen lieber Kleid als Hose anziehen. Die Zeit bis zur Abfahrt tickte und tickte.
Bin ich nun anfälliger für einen Herzinfarkt? Das hängt vermutlich ganz davon ab, wie ich diesen Stress empfinde. Man kann die vergebliche Hatz zur U-Bahn sportlich nehmen oder innerlich kochen. Letzteres regt im Körper die Produktion von Cortisol an. Das kann im Dauerzustand dazu führen, dass die Hirnleistung sinkt und sich Magengeschwüre bilden. Wer hingegen mit einer gewissen Leichtigkeit unterwegs ist, dem können die Pulsausschläge sogar gut tun. Kurze Rennen zu Bus und Bahn sind der Gesundheit sogar förderlich.
So bringen Sie mehr Bewegung in Ihren Büroalltag
Nicht der kürzeste Weg im Gebäude ist der beste, sondern der längste. Das verschafft Ihnen Bewegung und nebenbei stärkt es sozialen Zusammenhalt und Wissensaustausch, wenn auf dem Weg auch in anderen Abteilungen vorbeigeschaut wird.
Nehmen Sie die Treppe und nicht den Aufzug. Treppensteigen bringt Muskulatur und Kreislauf in Schwung.
Ordnen Sie Ihre Arbeitsmittel so an, dass Sie ab und zu aufstehen müssen: das Telefon nicht auf dem Tisch, sondern auf dem Sideboard; der Papierkorb nicht unter dem Tisch, sondern entfernt in der Raumecke.
Verwandeln Sie Sitzungen in Steh-Meetings. Das führt nebenbei auch zu deutlich intensiverer Beteiligung, kürzeren Meetingzeiten und höherer Effizienz.
Viel wichtiger aber wäre es, wenn Arbeitgeber mal auf die Idee kämen, die sportlichen Aktivitäten ihrer Mitarbeiter tagsüber zu unterstützen. Das beginnt meist damit, ordentliche Duschen zur Verfügung zu stellen. In der ZEIT-Redaktion beispielsweise gibt es eine großzügige Kantine, in der morgens geschnittene Rohkost für Mitarbeiter bereitsteht, es gibt Einzelbüros für die Redakteure und dienstags eine Masseurin. Es gibt aber auch: die winzigste Dusche der Welt. Wer die Tür zu früh öffnet, steht halbnackt auf dem Flur des Feuilletons; wer sie zu spät öffnet, fühlt sich angesichts der Luftfeuchtigkeit von annähernd 100 Prozent wie im Regenwald. Höchstens eine Handvoll Redakteure soll dort je gesichtet worden sein.
Nächste Hürde: die Akzeptanz. Ein Arbeitsessen setzen die meisten auf die Spesenrechnung. Versuchen Sie das mal mit der Tennisstunde mit Ihrem Geschäftspartner.
Vielen Pendlern wird die Ignoranz der Arbeitgeber zum Verhängnis. Pendeln ist Privatsache. Mit der Folge, dass Sport Privatsache ist. Mit der Folge, dass Pendler weniger Sport treiben und häufiger krank sind als ihre Kollegen. Am Ende zahlt die Krankenkasse – und damit letztlich die Gesellschaft.