„Der ZAW und seine Mitglieder blicken besorgt auf die Entwicklung der Werbeträger- und Medienlandschaft in 2024: Im Vergleich zu 2023 eröffnen positive Konjunkturprognosen und Verbesserungen beim Verbrauchervertrauen aufgrund merklicher Lohnsteigerungen Potenziale. Belastungen durch drastische Werbeverbote und Behinderungen des Wettbewerbs im Digitalbereich können Chancen zunichtemachen und ganze Sektoren hart treffen.“
So sieht der Blick des Zentralverbandes der deutschen Werbewirtschaft auf das Jahr 2024 aus. Die Werbebranche geht mit betrübter Stimmung ins neue Jahr. Das klingt ganz anders als die unvermeidlichen Prognosen und Trends, die Vertreter der Branche alljährlich absondern. Diese berichten meist davon, wie glorreich das Jahr wird – vor allem wenn man nur den Ratschlägen der Ratgeber folgt. Also ihnen...
Exemplarisch dafür sind Äußerungen, die das Forschungsinstitut WARC alljährlich publiziert. Die Mehrheit der Marketing-Entscheider rechnet mit besseren Geschäften, wovon auch die werbefinanzierten Medien profitieren werden. 41 Prozent der Marketing-Entscheider gehen davon aus, dass die Marketingbudgets im nächsten Jahr steigen. Hier herrscht Optimismus. „Ein wichtiges Ergebnis unserer Umfrage ist, dass sich die Marketer zwar wegen den Auswirkungen der Rezession Sorgen machen, aber auch hinsichtlich des Geschäftsklimas und der Marketingbudgets für 2024 optimistisch sind“, kommentiert Isabel Cleaver, Senior Analyst bei WARC, das Umfrageergebnis. Von Nachhaltigkeit ist keine Rede.
Nur mit Humor zu ertragen
Realistischer sehen die Experten den Hype um das Metaverse: „Während fast die Hälfte der Befragten angab, dass sie im Jahr 2023 mit einer Erhöhung der Investitionen in das Metaversum rechnen, geht nun nur noch ein Zehntel davon aus, dies im nächsten Jahr zu tun.“ Der Hype verfliegt, wie immer im Marketing in rasender Geschwindigkeit, (merkt das eigentlich niemand?) und macht Platz für den nächsten: AI.
Der X-Satireaccount „ADWEAK“ kommentiert diesen Brauch der Werber, jeden Hype schon nach wenigen Monaten durch einen neuen zu ersetzen, mit den Worten: „Breaking: Marketers Expected To Shift Focus From AI To Next Bright, Shiny Ad Tech Object in 2024“.
Künstliche Intelligenz steht bei Forbes folglich noch an erster Stelle der Trends, dicht gefolgt von Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR), Influencer Marketing, Video Marketing und User-Generated Content (UGC). Man wird das Gefühl nicht los, die Trends der Jahre 2021, 2022 und 2023 würden sich aufs Neue manifestieren.
Das erkennen wir auch bei Kantar, die glauben, der „Kampf um Aufmerksamkeit und Emotionen wird sich weiter intensivieren“ oder wenn sie vom „Wandel zu ganzheitlichen Erfolgsmetriken“ träumen. Und Werte an erster Stelle: „Deshalb müssen Unternehmen künftig sicherstellen, dass ihre Marke mit dem allgemeinen Werteverständnis im Einklang steht.“ Ach ja, und Retail Media natürlich.
Trend-Absurditäten
Der US-Werbekundenverband ANA lässt uns wissen, dass AI-Powered Marketing auf dem Vormarsch ist, erinnert an die Bedeutung von First Party Data (gähn…) und glaubt nicht nur an einen Fokus auf Brand Purpose und Social Responsibility, sondern an „Private-Centric Marketing“, denn 83 Prozent der Verbraucher goutieren Transparenz beim Sammeln von persönlichen Daten. Da hat jemand zu lange in den Statuten des Verbandes gelesen.
Den Vogel an Trend-Absurditäten schießt der similarweb Blog ab, der „Vom Menschen erstellter Content und Storytelling“ an die zweite Stelle ihrer sechs Trends setzt – also das, was Marketing seit Jahrzehnten praktiziert und das nun bedauerlicherweise von Künstlicher Intelligenz abgelöst wird.
Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken
Mit Kameras, Mikrofonen und Sensoren erkunden die Maschinen ihre Umwelt. Sie speichern Bilder, Töne, Sprache, Lichtverhältnisse, Wetterbedingungen, erkennen Menschen und hören Anweisungen. Alles Voraussetzungen, um etwa ein Auto autonom zu steuern.
Neuronale Netze, eine Art Nachbau des menschlichen Gehirns, analysieren und bewerten die Informationen. Sie greifen dabei auf einen internen Wissensspeicher zurück, der Milliarden Daten enthält, etwa über Personen, Orte, Produkte, und der immer weiter aufgefüllt wird. Die Software ist darauf trainiert, selbstständig Muster und Zusammenhänge bis hin zu subtilsten Merkmalen zu erkennen und so der Welt um sie herum einen Sinn zuzuordnen. Der Autopilot eines selbstfahrenden Autos würde aus dem Auftauchen lauter gelber Streifen und orangefarbener Hütchen zum Beispiel schließen, dass der Wagen sich einer Baustelle nähert.
Ist das System zu einer abschließenden Bewertung gekommen, leitet es daraus Handlungen, Entscheidungen und Empfehlungen ab – es bremst etwa das Auto ab. Beim sogenannten Deep Learning, der fortschrittlichsten Anwendung künstlicher Intelligenz, fließen die Erfahrungen aus den eigenen Reaktionen zurück ins System. Es lernt zum Beispiel, dass es zu abrupt gebremst hat und wird dies beim nächsten Mal anpassen.
Die Verlierer des Jahres 2024 stehen schon fest
In einer von Horizont durchgeführten Branchenumfrage zeigen sich die Befragten nicht sonderlich kreativ und nennen auf die Frage, „was 2024 in Marketing, Medien und Agenturen wichtig wird“ Dinge wie Haltung, Mut, Performance, Kundennähe, vernetzte Partnerschaften, Renaissance von Werten, Kundenerlebnis – mithin lauter Strategien und Ansätze, um die wir uns seit jeher zu kümmern haben. Wer damit erst 2024 beginnt, dürfte zu den Verlierern des Jahres zählen.
Wohltuend heben sich die Thesen von Ralf Scharnhorst ab, der ein Jahr der ID-Lösungen sieht, das Usern höherwertigen Content verspricht. Er sieht aber auch eine Marketing-Rezession aufziehen: „Die für Marketing nutzbaren Daten werden schlechter, die Medien fragmentieren sich noch weiter, neue Werbeträger werden immer komplexer.“ Er fordert auch eine neue Rolle für Europa: „Nicht-Datenschutz nach US-Muster auf der einen Seite, Zensur nach chinesischem Muster auf der anderen – Europa muss einen dritten Weg definieren auf Basis seiner Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ Ein Ziel, das zu verfolgen lohnt.
Nachhaltigkeit braucht Haltung
Claus Hoffmann (Admonitoring Group) schreibt in seinem LinkedIn-Beitrag von einer komplexen Gemengelage, die dennoch Trends für Marketing liefert. Als einziger setzt er Nachhaltigkeit an allererste Stelle: „Ganz oben steht die wachsende Sensibilisierung der Gesellschaft für Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, auf die Unternehmen und Marken überzeugende Antworten finden müssen. Dabei wird es 2024 eine der vordringlichsten Aufgaben sein, die Haltung, die Ziele und die Erfolge offensiver und überzeugender als bisher zu kommunizieren.“
Müssen wir, fragt man sich unweigerlich, wirklich wieder über Purpose und Haltung diskutieren? Ja, über echte Haltung, da hat Hoffmann recht. Denn ohne sie werden wir Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz nicht umsetzen können. Unternehmen, ihre Mitarbeiter, Lieferanten und Händler sind ein Teil unserer Gesellschaft, in der jeder Verantwortung übernehmen muss. Somit gilt dies auch für Marketing-Verantwortliche.
Umweltsünder mit falschen Zielen
Das mit Abstand wichtigste Ziel in Marketing und Werbung, das fast alle Branchen-Propheten übersehen, muss Nachhaltigkeit sein. Ohne die Welt in einen lebenswerten Zustand zu versetzen, sind alle anderen Ziele der Branche, die in den geschilderten Umfragen genannt werden, absolut wertlos. Das muss uns endlich bewusst werden. Wir alle haben viel zu lange viel zu wenig für nachhaltiges Marketing und verantwortungsbewusste Werbung getan. Die im Jahr 2024 neu zu verfassenden Nachhaltigkeitsberichte lassen grüßen.
Werbung alleine ist für ein Prozent des weltweiten Energiebedarfs verantwortlich; die ausschließlich durch Werbung finanzierte, digitale Welt für weitere vier Prozent. Wir müssen daher auf der Stelle beginnen, unnötige CO2-Emissionen durch Werbung zu vermeiden. Für Adzine schrieb ich: „Die digitale Werbewelt erwartet 2024 ein ganzes Bündel an Themen. Das mit Abstand wichtigste ist dabei Nachhaltigkeit. In den letzten Jahren haben wir nicht genügend getan, um die Emissionen der Werbebranche abzubauen. 2024 holen wir das alles nach.“ Bereits leichte Anpassungen bei der Medienauswahl senken bis zu einem Drittel des CO2-Ausstosses. Es ist ein Leichtes, dies noch heute für das Werbejahr 2024 umzusetzen.
Ebenso muss die kreative Werbebranche bei der Produktion von Werbemitteln und Werbefilmen ansetzen, um ihren ökologischen Fußabdruck nachhaltig zu verringern. Lutz Müller, Chef der Filmproduktion KANU, gibt in einem Gastbeitrag für Horizont Tipps, die helfen, Werbefilme nachhaltig zu produzieren – und dabei die CO2-Emissionen um mehr als die Hälfte zu reduzieren.
Verdacht auf Greenwashing steigt
Der Druck auf die Werbebranche steigt. Nach einer Untersuchung von PwC spielt Nachhaltigkeit auch für Investoren eine immer größere Rolle. Für 75 Prozent der Investoren sind Nachhaltigkeitsfaktoren wichtig, allerdings herrscht wenig Vertrauen in die Nachhaltigkeitsberichterstattung der Unternehmen: Mit 94 Prozent sind fast alle befragten Investoren der Meinung, dass die Berichte der Unternehmen zumindest in gewissem Maße unbelegte Behauptungen enthalten. Der Verdacht auf Greenwashing ist immer stärker ausgeprägt.
Große Worte kann die Branche. Jetzt müssen Taten folgen.
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