Das große Fressen Was das Börsenjahr 2015 prägte

Entzauberte Hedgefondsikonen, bis vor Kurzem undenkbare Abstürze im Dax und fulminante Gewinne bei Techaktien: So turbulent war das Börsenjahr.

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Am Ende warnt Robert Shiller noch einmal eindringlich: „Es herrscht eine aggressive Stimmung an der Wall Street“, sagt der Ökonomie-Nobelpreisträger. „Die Wall Street zieht merkwürdige Typen an“, so Shiller. „Sie handeln eiskalt. Das können nur Leute mit einer bestimmten Persönlichkeit.“ Höflich umschrieben – aber selbst die Haie, die Shiller meint, gewinnen nicht immer. So mancher Investor, der einem der Superstars sein Geld anvertraut hatte, musste das in diesem Jahr einsehen.

Etwa, als im Oktober die Aktie des kanadischen Pharmawerts Valeant abstürzte. Bilanztrickserei wirft eine Analysefirma den Kanadiern vor. Zeitweise notierten die Valeant-Papiere 70 Prozent unter ihrem Höchststand von Anfang August. Der Crash des Pharmariesen erschütterte die Wall Street, schließlich gehört Valeant laut Investmentbank Goldman Sachs „zu den zehn wichtigsten Aktien“ der US-Hedgefonds.

Kaum zu glauben: Auch die Gurus rennen manchmal alle in eine Richtung, ganz so, wie die viel belächelte Anlegerherde. Fast jeder große Investor ist getroffen, auch die Wall-Street-Ikonen John Paulson und Bill Ackman. Letzterer reagierte auf seine Weise – er kaufte weitere 2,1 Millionen Aktien von Valeant. Den Abwärtstrend aber hielt er damit nicht auf, weder den von Valeant noch den seines Fonds Pershing Square. Seit Jahresanfang liegt der 20 Prozent im Minus. Weh tat Ackman auch die Kursrally von Herbalife, einem Anbieter von Diät- und Kosmetikprodukten. Ackman wettete auf fallende Kurse, die Aktie aber stieg um 50 Prozent.

Mit Paulson, Ackman und David Einhorn wurden Hedgefondsmanager, die in der Finanzkrise groß geworden waren, in diesem Sommer entzaubert. Dabei hätte die heftig schwankende Börse – mit einem Dax zwischen 12 400 und 9400 Punkten – eigentlich ein gefundenes Fressen sein müssen, für die angeblich so ausgebufften Profis. Liquidität floss an die Märkte wie nie. Ideal für Hedgefonds: Die Kurse schwankten stark, bildeten insgesamt aber immer wieder über mehrere Monate klare Trends aus.

Diese Ausschüttungen dürfen Dax-Aktionäre erwarten

Zudem liefen die Fusionsmärkte heiß, mit den Brauriesen AnheuserBusch Inbev und SAB Miller sowie in der Chemie Dow Chemical und DuPont standen zwei der größten Übernahmen aller Zeiten auf dem Menü – jeweils mit Gegenwerten jenseits der 100-Milliarden-Dollar-Marke.

Aus dieser Gemengelage, so das Versprechen der Hedgies, lasse sich Kapital schlagen. Doch davon war nichts zu sehen. Die vermeintlichen Alleskönner schlossen das Jahr mit Minus ab, liegen weit abgeschlagen hinter den zweistelligen Steigerungen, die Euro-Land-Anleger an vielen Aktienmärkten einstreichen konnten. Selbst die langlaufenden Staatsanleihen im Euro-Land haben Anlegern noch drei Prozent beschert. Der Grund ist klar: Von Zinswende keine Spur, in Europa jedenfalls, also laufen die alten Papiere gut.

Großanleger wie der kalifornische Pensionsfonds Calpers haben sich schon enttäuscht aus Hedgefonds verabschiedet. Sie glauben nicht mehr daran, dass komplizierte Wetten mehr bringen als einfache Mischungen aus der Aktien- und Anleihewelt.

Abstürzende Standardwerte

Zumal sich die Aktienbörsen unter dem Strich noch wacker schlugen. Selbst am vor sich hindümpelnden US-Markt ließ sich zweistellig verdienen, dem schwachen Euro sei Dank. Doch wohl nie zuvor gab es trotz positiver Performance der Indizes solch dicke Abstürze einzelner Aktien, auch von marktschweren: Bei E.On und RWE erodierte das Geschäftsmodell, über die Deutsche Bank wollen wir ermattet schweigen, und VW hat einen veritablen Skandal selbst verschuldet. Um 40 Prozent zu verlieren, benötigte die VW-Aktie nach Beginn von Dieselgate immerhin noch zwei Handelswochen.

Deutlich schneller, binnen eines Tages, stürzten andere: der Autozulieferer Leoni um ein Drittel Mitte Oktober, Kolbenspezialist ElringKlinger im September um ein Viertel, fast ebenso die Aktie der Baumarktkette Hornbach Mitte Dezember. Automatenspezialist WincorNixdorf crashte im April 30 Prozent binnen Stunden und schien anschließend übernahmereif. Die TecDax-Werte Aixtron und Manz verloren gut 40 und 30 Prozent im Dezember und Oktober. Was ist los in der deutschen Wirtschaft, mag man da fragen. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, auch um Dax-Werte, etwa Linde.

Absturzgrund waren immer wieder Kürzungen der Umsatz- und Gewinnprognosen. Dass die zu Verlusten führen, ist nicht ungewöhnlich, doch in dieser Heftigkeit neu. Abgestraft werden die Unternehmen nicht allein von herb enttäuschten Investoren. Vielmehr drücken Algorithmen die Kurse tiefer als früher. Der computergesteuerte Handel, er ist 2015 endgültig angekommen an der Börse – und ein Unsicherheitsfaktor mehr.

Börsengänge auf Siebenjahreshoch

Noch nicht am Werk sind die schnellen Computerhändler bei Börsengängen, zumindest nicht in der Phase, in der Aktien den Investoren angepriesen werden. Für die Banken in diesem Jahr ein hartes Brot: „Wir müssen die Aktien schon bei einer Vielzahl von Investoren vermarkten, um die Transaktionen erfolgreich zu platzieren“, sagt Klaus Fröhlich, Leiter des Kapitalmarktgeschäfts bei Morgan Stanley in Frankfurt. Das ist gelungen: Unternehmen sammelten auf dem deutschen Parkett via Börsengang 2015 so viel Geld ein wie seit 2007 nicht mehr. 15 Unternehmen wagten im Vorzeigemarkt Prime Standard der Deutschen Börse den Sprung. Insgesamt sammelten sie rund 7,1 Milliarden Euro ein, mehr als doppelt so viel wie 2014. „Es gab Jahre, etwa nach der Finanzkrise, da waren Börsengänge überhaupt nicht möglich. Jetzt aber ist der Markt wieder geheilt“, betet Fröhlich gesund. Auch, weil heimische Privatanleger stark in Fonds investierten, die gierig neue Aktien aufnehmen. Bis Ende Oktober sammelten Publikumsfonds unterm Strich die Rekordsumme von 63 Milliarden Euro ein, damit schon jetzt mehr als doppelt so viel wie im gesamten Jahr 2014.

Knapp 14 Milliarden davon gingen in reine Aktienfonds, gut 33 Milliarden in Fonds, die neben Aktien auch etwa in Anleihen investieren. Der Fondsverband BVI jubelt, man nähere sich dem Rekordabsatz des Jahres 2000. Das billige Geld der Notenbanken, wie soll es anders sein, drängt an die Börse.

Trotzdem, obwohl alle Welt neue Anlagemöglichkeiten sucht, schneiden die neuen Aktien eher mau ab: Sieben Werte liegen über ihrem ersten Kurs, fünf schneiden prima ab: der Kabelnetzbetreiber Tele Columbus mit 13 Prozent plus, der Immobilienbewirtschafter ADO Properties mit 23 Prozent, die abgespaltene Bayer-Chemiesparte Covestro liegt ebenso 29 Prozent vorne wie die Privatplatzierung Schaeffler. Mit dem Mikrokredit-Vermittler Ferratum ließen sich bisher sogar 50 Prozent Gewinn einfahren. Drei neue Aktien floppten: Die des Schmuckherstellers Elumeo, des Halbleiterunternehmens Siltronic und die von Versandhändler Windeln.de verloren zur Erstnotiz zwischen 20 und 44 Prozent.

Hype im Silicon Valley

Von derartigen Verlusten sind Tesla-Aktionäre der ersten Stunde weit entfernt: Seit der Erstnotiz zum Börsengang 2010 hat sich der Kurs des E-Autoherstellers um 1200 Prozent beschleunigt. Längst ist Tesla-Gründer Elon Musk für die Autobranche das, was Apple-Gründer Steve Jobs einst in Sachen Elektronik war – eine Ikone: Egal, wo der 44-Jährige auftritt, die Leute stehen Schlange. Auch vor dem Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. Im September nutze Musk dort Volkswagens Dieselgate für gezielte Seitenhiebe auf die deutsche Konkurrenz, wohl wissend, dass die den Elektroantrieb verschlafen hat: Der Verbrennungsmotor habe „seinen Zenit erreicht“ und könne „nur noch durch Trickserei“ geringere Verbrauchs- und Abgaswerte bei gleicher Leistung erreichen, sagte Musk. Vielleicht eine Retourkutsche auf den damaligen Porsche- und heutigen VW-Chef Matthias Müller, der Tesla in Interviews als verlustreiche Nischenerscheinung bezeichnet hatte.

Ende September ist Musk wieder zu Hause in Kalifornien; wieder stehen die Leute Schlange. Diesmal bei der Premiere des neuesten Tesla: Das Model X ist ein riesiger SUV mit sieben Sitzen und 772 PS und – wie alle Tesla – voll elektrisch. Dass Tesla noch immer kein Geld verdient, interessiert weiterhin niemanden. Auch an der Börse noch nicht: Selbst auf schlechte Nachrichten, wie eine drastisch verschlechterte Kundenzufriedenheit oder den Rückruf von 90 000 Teslas wegen Gurt-Problemen, reagiert der Aktienkurs nicht mehr.

Party wie einst 1999

Sicher: Keine Technologieaktien zu besitzen war 2015 ein Fehler. Der US-Technologieindex Nasdaq überwand mühelos sein bisheriges Allzeithoch aus dem März 2000. Zwei große Nasdaq-Werte, Netflix und Amazon, haben sich 2015 sogar mehr als verdoppelt. Dem Internet-Urgestein Amazon kreiden Investoren zwar regelmäßig zu schwache Gewinnmargen an. Amazon verdiente 2010 2,53 Dollar pro Aktie, 2011 nur noch die Hälfte und hat seither keine Gewinne mehr ausgewiesen.

Doch Rückschläge nach schwachen Quartalszahlen waren stets Kaufgelegenheiten. Anleger wetten darauf, dass Amazon auf Augenhöhe mit Apple, Facebook und Alphabet – die Künstler, die früher Google hießen – die nächste Techgewinnerstory schreibt. Bald wird Amazon-Chef Jeff Bezos liefern müssen: Anders als bei Apple, Google oder Facebook steigen Gewinn und Mittelzufluss bei Amazon nicht mit dem Umsatz.

Vorbörsliche Techblase

Nicht nur Amazon; die meisten Techwerte schlugen sich 2015 weit besser als der Gesamtmarkt. Manche meinen: zu gut. Schon wieder habe sich da eine gigantische Blase aufgepumpt im Techsektor. Diesmal, anders als 2000, weniger an der Börse, als vorbörslich: bei Start-ups, in die Wagniskapitalfonds viele Milliarden pumpen. Verlustreiche, meist erst wenige Jahre alte Firmen wie Uber, Dropbox, Evernote, Snapchat und Airbnb sollen mehr wert sein als manche Dax-Konzerne; Gewinn liefern werden sie, wenn überhaupt, erst in Jahren. Das dürfte nicht gut gehen, unken viele.

Doch 2015 hatte eine überraschende Lektion parat: Spekulationsblasen müssen nicht mit einem lauten Knall platzen und alles mit sich reißen; die Luft kann auch langsam entweichen. Immer mehr überbewertete Start-ups kommen an die Börse, mit kräftigen Preisnachlässen, aber sie kommen. Der Crash wird verhindert, weil Investoren bereit sind, deutliche Abstriche hinzunehmen: Zu spät und zu teuer in privaten Finanzierungsrunden eingestiegene Investoren geben Anteile zum Teil für deutlich weniger ab, als sie ein paar Monate zuvor selbst bezahlt haben. Die Verluste schreiben sie brav ab, so wie Fidelity kürzlich auf die Video-Chat-Platform Snapchat. Davor mussten Anleger beim Börsengang des Cloud-Anbieters Box Verluste einstecken, ebenso beim Digital-Bezahldienst Square.

Das ist neu; eigentlich wollen die Investoren beim Börsengang Reibach machen. Zu sehr wundern sollten sich Anleger darüber aber nicht: Neuerdings steigen Investoren bei besonders riskanten Start-ups nur noch ein, wenn ihnen die Firma einen Gewinn garantiert. Kommt die Aktie zu billig an die Börse, bekommen manche Investoren eben mehr Aktien. Ganz gleich sind an der Börse eben doch nicht alle. Wir haben es ja geahnt.

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