Börsenchef Carsten Kengeter musste beim geplanten Zusammenschluss mit der London Stock Exchange (LSE) bis zur letzten Minute zittern: Bis Dienstag, 14 Uhr, hatten seine Aktionäre erst 59,4 Prozent der Deutsche-Börse-Aktien in jene der fusionierten Gesellschaft umgetauscht. Erst um 17 Uhr rutschte die Quote dann knapp über die erforderliche 60-Prozent-Marke. Die endgültige Zahl, wie viele Aktionäre getauscht haben, wird für Donnerstag erwartet.
Dass die Börse die 60-Prozent-Hürde jetzt knapp genommen hat, ist für den ehemaligen Investmentbanker Kengeter aber nicht mehr als ein Etappensieg. Seine wahre Herausforderung ist es nun, nach dem beschlossenen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) die Aufseher zu besänftigen.
Kengeters Kardinalfehler: Im Vertrag mit der LSE gibt es schlicht keine Regel, was im Fall eines Brexit passiert. Im Gegenteil - im Übernahmeangebot der fusionierten Gesellschaft (HoldCo) steht, dass „die Vertragsparteien“ vereinbart hätten, folgende Punkte „unter keinen Umständen“ abzuändern: Die HoldCo ist eine „in England und Wales errichtete Gesellschaft“. Doch dass die neue Holding der Deutschen Börse außerhalb der EU sitzen soll, ist mit vielen Aufsehern, die der Fusion noch zustimmen müssen, nicht zu machen.
Aus Sicht von Felix Hufeld etwa, Chef der Finanzaufsicht BaFin, ist die Fusion nur schwer vorstellbar, wenn der Sitz wie geplant im EU-Ausland London angesiedelt würde. Wie zu hören ist, spricht die Börse deshalb mit der LSE über eine Verlagerung des Firmensitzes in die EU oder über die Schaffung eines doppelten Firmensitzes für die Holding. Was jedoch zwei Sitze in unterschiedlichen Rechtssystemen zur Folge hätten, steht dann wieder auf einem anderen Blatt.
Blamage für den Chef
Und die Zitterpartie um die Quote ist aus noch einem anderen Grund eine Blamage für Kengeter. Um sich die Zustimmung ihrer Aktionäre zu sichern, hatte seine Börse die Mindestannahmequote vor zwei Wochen von 75 auf 60 Prozent gesenkt. So wollte Kengeter sicherstellen, dass auch Indexfonds von großen Gesellschaften wie Blackrock ihre Papiere tauschen. Solche Indexfonds werden immer wichtiger. Statt aktiv über die Geldanlage zu entscheiden, investieren sie ihr Geld stupide in Indizes wie den Deutschen Aktienindex (Dax), in dem die 30 größten deutschen Unternehmen sind, zu denen auch die Deutsche Börse gehört. Etwa 15 Prozent der Deutsche-Börse-Aktien liegen in solchen Indexfonds – ein gewichtiger Anteil.
Neue und alte Aktien
Die Krux: Aktuell gibt es zwei Aktien der Deutschen Börse – die alte und die neue. Indexfonds wollen immer in der Aktie investiert sein, die aktuell im Index ist. Und bis vor wenigen Tagen listete der Dax-Index noch die alte Aktie der Deutschen Börse und nicht die des fusionierten Unternehmens. Denn die Schwelle, bei der im Dax die neue Aktie aufgenommen wird, liegt bei 50 Prozent - das heißt, dass 50 Prozent der alten Deutsche-Börse-Aktien in die neue Aktien umgetauscht sein müssen, damit die neue Aktie im Dax gelistet wird. Bis diese Schwelle erreicht war, konnten die Indexfonds folglich ihre alten Deutsche-Börse-Aktien nicht in neue tauschen. Seit die 50-Prozent-Marke überschritten ist, können sie dies.
Aber: Von den etwa 15 Prozent der Deutsche-Börse-Aktien, die bei Indexfonds liegen, steckt nur etwa ein Viertel in Dax-Indexfonds. Die restlichen Aktien der Börse, die bei Indexfonds liegen – etwa elf Prozent des Börsenkapitals – liegen in Depots von Investoren, die in MSCI- oder Stoxx-Indizes investieren, in denen die Aktie der Deutschen Börse ebenfalls enthalten ist. Das Problem: In diesen wichtigen Indizes sind nach wie vor die alten Aktien der Börse enthalten, denn die Indizes nehmen die neuen Aktien der fusionierten Gesellschaft erst auf, wenn – im Fall von Stoxx – 75 Prozent der alten Aktien in neue umgetauscht worden sind. Und davon ist die Börse aktuell immer noch weit entfernt. Auch im MSCI sind noch die alten Aktien der Deutschen Börse.
Kengeter, der viele teure Berater engagiert hat, hätte das eigentlich vorher wissen müssen und sich von Anfang an auf diese wichtige Gruppe von Investoren vorbereiten müssen.
Da die erforderliche Quote von 60 Prozent nun erreicht worden ist, bekommen nun alle, die noch nicht getaucht haben, eine weitere Frist, es sich anders zu überlegen -, gemeint ist die so genannte Zaunkönig-Regel. Der Zaunkönig ist ein Vogel, der als besonders schlau gilt. Die Regel beschreibt den listigen Aktionär, der sich auf dem Zaun sitzend erstmal anschaut, ob die anderen ihre Aktien tauschen oder nicht. Da die anderen nun mehrheitlich getauscht haben, bekommen die bislang unentschlossenen Zaunkönige nun zwei zusätzliche Wochen Zeit hat, sich zu entscheiden.