Dabei war Peking für den indischen Sport schon ein kleiner Turnaround. Vier Jahre zuvor in Athen hatte Indien seine erste Silbermedaille in einem Einzelwettbewerb überhaupt gewonnen.
Mit Ausnahme von Kricket, dem indischen Nationalsport, spielt Indien im internationalen Spitzensport nur unter Fernerliefen mit. „Bei Olympischen Spielen fahren indische Sportler das mit Abstand schlechteste Resultat gemessen an der Bevölkerungszahl ein“, beobachtete schon der Schriftsteller Ilija Trojanow („Der Weltensammler“), der mehr als sechs Jahre in Indien lebte, in seinem unterhaltsamen Brevier „Gebrauchsanweisung für Indien“.
In den Spielen von 1896 bis 2008 hat Indien gerade mal 20 Medaillen gewonnen. Von den neun Goldmedaillen haben die Inder allein acht in einem Mannschaftssport, Hockey, errungen. Aber Indiens glorreiche Zeiten im Hockey sind vorbei. Mit Gold rechnen sie hier schon lange nicht mehr. Sie sind schon stolz, dass ihr Hockeyteam überhaupt die Qualifikation für London erreicht hat. Vor vier Jahren war es daran gescheitert – ein Menetekel für den indischen Spitzensport.
Olympische Medaillen bei Sommerspielen 1896 – bis 2008
USA: 931
Russland: 395
Deutschland: 247
China: 163
Indien 9
USA: 729
Russland: 319
Deutschland: 284
China: 117
Indien: 4
USA: 638
Russland: 296
Deutschland: 321
China: 105
Indien: 7
USA: 2298
Russland: 1010
Deutschland: 852
China: 385
Indien: 20
Da tröstet es wenig, dass 80 der 204 in London teilnehmenden Länder überhaupt noch nie eine Medaille gewonnen haben. Was zählt, ist der Vergleich mit den anderen Schwellenländern, vor allem mit dem ungeliebten Nachbarn China, das 2008 sogar erstmals mehr Medaillen einheimste als die USA.
Indien ist keine große Sportnation
Mit dem Leistungssport ist es in Indien wie mit der Infrastruktur. Man möchte sie zwar modernisieren und schon gerne zur Weltspitze gehören, aber staatliche Misswirtschaft, unfähige und korrupte Funktionäre und eingefahrene Traditionen verhindern die Umsetzung der hehren Ziele.
Natürlich spielt auch das wirtschaftliche Entwicklungsniveau eine Rolle. Ein Drittel der Inder leben unter der Armutsgrenze. Das Land braucht sicherlich Vieles dringender als eine Leistungssportförderung wie in den entwickelten Ländern.
Schulsport gibt es, meist aber nur in den privaten Schulen. „Die öffentlichen Schulen haben andere Sorgen“, sagt Johanna Simmons von der Unternehmensberatung Maier + Vidorno in Neu Delhi. Im staatlichen Schulsystem gilt es, vor allem auf dem Land, erst einmal die rudimentären Dinge wie die Gebäude für den Unterricht, die sanitäre Einrichtungen und Lehrmittel sicherzustellen.
Zwar erfreuen sich die Sportwettkämpfe an den Schulen großer Beliebtheit. Jeder möchte schließlich der Beste sein. Aber nach der zehnten Klasse enden die sportlichen Aktivitäten ohnehin meist: Der Wettbewerbsdruck zur Aufnahme an der Highschool ist enorm und die Schüler sollen und wollen sich auf ihre Ausbildung konzentrieren, um einen gut bezahlten Job zu bekommen. Begehrte Berufe, die den sozialen Aufstieg ermöglichen, sind Ingenieur, Rechtsanwalt oder Arzt. Eine Sportkarriere wie etwa in den USA zählt nicht dazu.
„Der Talentpool ist sicherlich vorhanden, wird aber nicht wirklich gefördert“, sagt Mike D. Batra, Geschäftsführer der im Indiengeschäft engagierten Unternehmensberatung Dr. Wamser + Batra. Dabei mögen auch religiöse und kulturelle Gründe von Bedeutung sein, der Hinduismus als weltverneinende Form religiöser Ethik und das Kastensystem, die den Einzelnen in seiner individuellen Entwicklung bremsen. So wird die Berufswahl traditionell von der Familie entschieden.