Libyen Analyse eines Landes ohne Staat

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Transitland ohne Staat

Der deutschen Innenminister de Maiziere erkannte richtig, dass die staatliche Ordnung in Libyen wiederhergestellt werden müsste, um das Phänomen der illegalen Migration in den Griff zu bekommen. Eine solche Erkenntnis hätte auch ein Erstsemesterstudent in dieser allgemeinen Form formulieren können. Diese Erkenntnis macht erst dann Sinn, wenn sie mit „Policy“ verbunden wird, die auf dem Wissen über zwei Bereiche fußt: 1. Wissen über die Staatlichkeit in Libyen und 2. Wissen in einer Feasibility-Analyse, das heißt Wissen über die Umsetzbarkeit der politischen Absicht, also darüber wie der libysche Staat wiederherzustellen ist. Beides scheint der deutsche Minister jedoch nicht zu haben. Das Handelsblatt hat ihm in einem Dossier zu Recht bescheinigt, sein Amt als „Minister des Dismanagement“ zu führen. Dies bezeugt er vor allem im Bereich der Flüchtlingspolitik.

Libyen: Transitland ohne Staat. Quelle: dpa

Weder die EU noch Deutschland haben eine Policy für den Umgang mit dieser Herausforderung. Nicht mehr als Sprüche wie „Wir schaffen das!“ (Merkel) oder „Wir werden Ordnung in Libyen schaffen!“ (de Maiziere). In diesen Sprüchen vernimmt man eine Mischung aus Selbstgefälligkeit und Ignoranz, aber keine Policy von verantwortungsethischen Politikern.

Die EU spricht vom Schutz der äußeren Grenzen der EU, doch die Frontex-Schiffe, die diese Aufgabe haben, schützen nicht die Grenzen, sondern assistieren den Menschschmugglern. Der Spiegel (39/2016) zitiert einen libyschen Offizier, der die Frontex-Schiffe der EU verächtlich mit einem Taxi vergleicht: „Die Schlepper benutzen euch inzwischen wie ein Taxiunternehmen, das die Kundschaft sicher und kostenlos kurz vor der libyschen Küste abholt.“ Früher mussten die kommerziellen Schlepper große Boote bereitstellen, die die Armutsflüchtlinge bis zur nächsten italienischen Insel bringen. Heute reicht es, kleine brüchige Boote oder gar nur Schlauchboote einzusetzen, die nur bis zur libyschen Wassergrenze paddeln, wo dann die Frontex-Schiffe auf sie warten und sie wunschgemäß weiter nach Europa befördern. Von Schutz der Grenzen Europas kann also keine Rede sein. Die EU-Schiffe agieren als Hilfsinstrumente der kriminellen Schlepperbanden.

Dem Spiegel zufolge ist allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres 130.000 Armutsflüchtlingen die Flucht aus Libyen übers Mittelmeer nach Europa gelungen. Die Süddeutsche Zeitung gibt, wie oben gesagt, die Zahl von 280.000 Flüchtlingen an. Millionen weitere warten auf den Transfer.

Libyen als koloniale bzw. postkoloniale Konstruktion

Es ist unmöglich, Libyen als Transitland ohne Staat zu verstehen, ohne geschichtliche Bezüge hierfür zu liefern. Libyen als staatlich-territoriales Gebilde hat es in der Geschichte nur dreimal gegeben. Zunächst als italienische Kolonie, dann als Monarchie unter der religiös-tribalen Herrschaft des Sanousi-Clans und zum Schluss unter der „pretorianischen Ordnung“ (so nennt es Samuel P. Huntington), das heißt der Diktatur Oberst Qadhafis. Vor der italienischen Kolonialherrschaft hat es nie ein staatliche Gebilde oder Territorium namens Libyen gegeben. Unter der mehrere Jahrhunderte andauernden imperialen türkisch-osmanischen Herrschaft war das heutige Gebiet Libyens in kleine territoriale Gebiete unter lokaler Stammesherrschaft unterteilt, die dem Osmanischen Reich untergeordnet wurden.

Die Italiener kamen nach Nordafrika graduell als Kolonialmacht ab 1911 und haben zunächst die Küste besetzt. Sie schufen ab 1922 ein künstliches geografisches Gebiet aus den bisherigen osmanischen Provinzen Cyreneika, Tripolitanien und Fezzan. Die Italiener erfanden für dieses Gebiet das Nomen „Libia“. Hieraus ist später der künstliche oder nominelle Staat hervorgegangen, der den Namen Libyen trägt. In diesem Gebiet leben Aberdutzende von Stämmen; nach innen sind sie tribal konstituiert, aber nach außen haben sie den Islam und die arabische Sprache als eine Gemeinsamkeit. „Libia“ war für die Italiener eine Siedlungskolonie. Italiener bildeten bis zum Zweiten Weltkrieg etwa 18 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Zweiten Weltkrieg verlor Italien die Kontrolle über Libyen. Die Briten besetzten Tripolitanien und die Cyreneika, die Franzosen Fezzan. Nach einer Übergangsperiode von 1943-1951 entschieden die Vereinten Nationen, dass ein eigener Staat entstehen solle.

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