Nahost-Experte Bassam Tibi Es gibt keine Lösung für den Syrien-Krieg

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Gegenseitiger Respekt

Nach der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich 1945/46 gab es zwar mehrere Putsche, aber grundsätzlich ein durch Zivilität gekennzeichnetes friedliches und funktionierendes Gemeinwesen. Die Nahda-Nahost-Renaissance-Bewegung war in Syrien geboren, um – wie ich es in meinem Buch „Vom Gottesstaat zum Nationalstaat“ beschrieb – Anschluss an die Moderne zu finden.

Eine Mehrheit aus arabischen Sunniten (ca. 75 Prozent) lebte in den Großstädten mit den religiösen und ethnischen Minderheiten der Christen (ca. 8 Prozent), Kurden (ca. 5 Prozent), Drusen, Armenier, Assyrer und anderen in gegenseitigem Respekt. Das habe ich als Schüler in Damaskus erlebt. Heute hat der Krieg Syrien unwiderruflich sowohl ethnisch als auch religiös zerrüttet.

Damals schickten bürgerliche Familien der Großstädte ihre Kinder zum Studium an europäische und US-Universitäten - und nicht mehr auf die Militärakademien. Meine Biografie – ich kam 1962 nach Deutschland – ist ein Beispiel hierfür. Die Offiziers-Ausbildung strebten stattdessen junge Alawiten aus nordsyrischen Dörfern an. Einer von ihnen war der Luftwaffenoffizier Hafiz al-Assad.

Die Gegner des Islamischen Staates

In den Jahren seiner Diktatur 1970-2000 hat er Syriens Bevölkerung in verfeindete Ethnien und Sekten unter alawitischer Herrschaft fragmentiert. Ich nenne dies die „Alawitisierung“ des syrischen Staates. Was 2011 geschah, war daher keine Überraschung, sondern explosive Folge dieses Prozesses.

Um den Kern des Problems zu begreifen, muss man wissen:  Zwischen 1970, dem Jahr des Assad-Putsches und 2011, dem Ausbruch der Rebellion, wurde der gesamte Staatsapparat im Rahmen eines Elitenwechsels alawitisiert. Vor allem Führungspositionen im Offiziers-Korps der Streitkräfte wurden fast ausschließlich von Alawiten besetzt.

An zweiter Stelle steht der Sicherheitsapparat (Mukhabarat), der teilweise von Stasi-DDR-Offizieren ausgebildet wurde. Mukhabarat-Agenten agieren noch fürchterlicher als Nazi-Schergen und KGB-Mörder. Töchter von Sunniten-Familien waren wie Freiwild und wurden von diesen Verbrechern vergewaltigt. Nur Menschen aus dem Orient können verstehen, welche Demütigung dies für eine Familie ist.

Syrische Flüchtlinge berichteten mir, wie alawitisch besetzte Ämter in Damaskus und Aleppo Sunniten ermorden ließen, um anschließend ihre Organe auf dem internationalen Transplantationsmarkt zu verkaufen. In meinem Kapitel „Syrer und Deutscher“ in Alice Schwarzers Buch „Der Schock“ habe ich diese Gewalt beschrieben, die Syrer nicht nur erleiden, sondern als Kultur mit nach Deutschland bringen.

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