Protestwähler und populistisch argumentierende Politiker wirbeln in den USA und Europa bisher zementierte politische Mehrheiten durcheinander. Doch was treibt Menschen zu Parteien, die für sich allein beanspruchen, die Interessen des Volkes zu vertreten und sich gegen das sogenannte Establishment stellen? Eine EU-Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass Globalisierungsängste eine wesentliche Rolle bei dieser Entwicklung spielen.
Besonders in Deutschland schlägt sich diese Angst vieler Bürger, die hauptsächlich auf einer diffusen Furcht vor Migration gründet, in deren Wahlentscheidung nieder. So ergab die im August durchgeführte Befragung von 14.936 Personen in den neun größten EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Österreich, Polen, Spanien und Ungarn, dass Anhänger rechtsnationaler und populistischer Parteien besonders häufig die Folgen internationaler Verflechtung fürchten. Über zwei Drittel der AfD- (78 Prozent), Front-National- (76 Prozent) und FPÖ-Unterstützer (69 Prozent) sehen demnach die Globalisierung als Bedrohung.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Befund, dass bei allen untersuchten rechtsnationalen Parteien, von der italienischen Forza Italia bis zur britischen Ukip, stets mindestens die Hälfte der Partei-Anhänger zu den Globalisierungspessimisten gehören. Die Experten schließen daraus, dass Globalisierungsangst ein Treiber für den Erfolg rechtsnationaler Parteien in Europa ist.
Auch bei linken Parteien spielen Globalisierungsängste eine Rolle, jedoch ist der Faktor dort laut der Studie nicht so bestimmend wie bei rechtsnationalen Parteien. Er überschreitet seltener die 50-Prozent-Marke: Am höchsten sind die Globalisierungsängste in dieser Parteiengruppe demnach bei der französischen Front de gauche (58 Prozent) und der deutschen Linkspartei (54 Prozent). Bei CDU/CSU, SPD und den Grünen spielen Globalisierungsängste keine herausragende Rolle: Jeweils gut ein Drittel dieser Parteianhänger hat laut Umfrage Angst vor der Globalisierung.
Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, sieht nunmehr die etablierten Parteien in der Pflicht, vor allem auf den Rechtsdrift in Europa zu reagieren und die Angst vor Globalisierung in ihre Arbeit einzubeziehen. „Wir dürfen das Werben um besorgte Bürger nicht den Populisten überlassen“, sagt er. Dass Handlungsbedarf besteht, legt eine weitere repräsentative Umfrage von TNS Infratest im Auftrag der Körber-Stiftung nahe: Viele der 1.001 befragten Bundesbürger glauben demnach, dass die EU nicht auf dem richtigen Weg sei, und sind unzufrieden mit dem Zustand der Union.
Zweifel an der „Methode Merkel“
Der Befund der Bertelsmann-Studie bedeutet für die Parteien einen Anlass, das Migrations-Thema stärker in den Fokus der politischen Auseinandersetzung zu rücken – zumal die Menschen, die die Globalisierung als eine Bedrohung wahrnehmen, darin „eine der wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft“ sähen. Sie hätten weniger Kontakt mit Ausländern in ihrem Alltag und äußerten häufiger ausländerfeindliche Gefühle, heißt es in der Studie. Zudem seien diese Menschen skeptischer gegenüber der Europäischen Union und der Politik im Allgemeinen.
Die Experten der Bertelsmann-Stiftung leiten daraus einen klaren Auftrag an die Politik ab. „Die Auseinandersetzung mit diesen Ängsten gehört zu den zentralen politischen Herausforderungen der kommenden Jahre. Nur wer sie aufzulösen weiß, wird Wähler von den populistischen Parteien zurückgewinnen können.“ Zwar habe diese Erkenntnis schon begonnen, sich bei den europäischen Parteien durchzusetzen. Ob allerdings die Strategie, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sich dem Thema stellt, die richtige ist, lässt sich derzeit noch nicht mit Gewissheit sagen.
Die Sprüche der AfD
Ob Flüchtlingspolitik oder Fußball - mit markigen Sprüchen sorgen führende AfD-Politiker immer wieder für Kopfschütteln und Empörung, wie jetzt die stellvertretende Bundesvorsitzende Beatrix von Storch. Einige Zitate.
Quelle: dpa
„Das ist ungefähr so, als würden Sie mit Plastikeimern einen Tsunami stoppen wollen.“ (Der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen am 24. Oktober 2015 bei einem Landesparteitag in Baden-Württemberg über die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise)
„Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp.“ (Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke am 21. November 2015 in einem Vortrag über Asylbewerber aus Afrika)
„Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen. (...) Es gibt keinen Grund, mit Gewalt unsere Grenze zu überqueren.“ (Die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch Ende Januar 2016 auf ihrer Facebook-Seite über Flüchtlinge)
„Ich will das auch nicht. Aber zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt.“ (Die AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry in einem Interview des „Mannheimer Morgen“ vom 30. Januar 2016. Angesichts des Flüchtlingszustroms forderte sie im Notfall auch den Einsatz von Schusswaffen.)
„Wir müssen die Grenzen dichtmachen und dann die grausamen Bilder aushalten. Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen.“ (Gauland am 24. Februar 2016 im Magazin der Wochenzeitung „Die Zeit“ über Flüchtlinge)
„Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“ (Gauland in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 29. Mai 2016 über Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng)
„Eine deutsche oder eine englische Fußballnationalmannschaft sind schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne.“ (Der AfD-Bundesvize Alexander Gauland am 3. Juni 2016 im „Spiegel“)
Die Autoren der Bertelsmann-Studie sind jedenfalls nicht restlos überzeugt, ob die „Methode Merkel“, bei der politische Veränderungen Vorrang hätten vor Veränderungen der Rhetorik, am Ende tatsächlich imstande ist, bei den Bürgern eine Veränderung in ihrer Parteienpräferenz herbeizuführen. „Diese Methode birgt (…) das Risiko, dass sie nicht die politisch befriedende Wirkung entfaltet, die sie beabsichtigt“, heißt es in der Expertise. Denn: „Gerade in Zeiten des allgemeinen kommunikativen Rauschens bedarf es einer pointierten kommunikativen Geste, um durchzudringen und sorgenvolle Gemüter zu beruhigen.“
Die Experten erinnern daran, dass es Merkel schon einmal gelang, mit einer Ansprache an das Volk Besorgnisse zu zerstreuen: Als die Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zu einem frühen Zeitpunkt der Finanzkrise den Bürgern versicherte, dass ihre Einlagen sicher seien, habe sie die Botschaft vermittelt: „Wir kümmern uns. Alles unter Kontrolle.“ In der aktuellen Migrations-Debatte sei es allerdings noch nicht zu einer solchen Geste gekommen. „Und so hält sich beharrlich und in seltsamem Widerspruch zu den teils drastischen Maßnahmen der diffuse Eindruck, es würde nichts getan. Die Politik sei überfordert.“
„Merkels politischer Erfolg ist auch mit der Flüchtlingszahl verbunden“
Genährt habe diesen Eindruck, so die Studienautoren, auch der heftige Streit, der in den vergangenen Monaten zwischen den Unionsparteien getobt habe. Aus Sicht der Experten gibt es jedoch einen Ausweg aus dem Dilemma: „Die Beilegung des Streits gepaart mit einer konzentrierten kommunikativen Aktion, die ausstrahlt: ‚Wir haben die Lage im Griff‘, würde der Entwicklung der AfD vermutlich sehr schaden.“ Und Merkel möglicherweise auch innerparteilich stärken.
„Angela Merkels politischer Erfolg ist auch mit der Flüchtlingszahl verbunden“, sagte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff (CDU) im Gespräch mit „FAZ.net“. Der CDU-Politiker zeigte sich deshalb besorgt angesichts der Drohung des türkischen Präsidenten Erdogan, den Flüchtlingspakt mit der EU aufzukündigen. Zumal sich Merkels Politik seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im vergangenen Herbst grundlegend verändert habe. Auch wenn sie keine Kurswende verkündet habe, habe sie diese gleichwohl vollzogen. Die Herausforderung sei noch immer groß, aber lösbar, fügte Haseloff mit Blick auf die Integration der Zugewanderten in den Arbeitsmarkt hinzu.
Auch in der Bertelsmann-Studie wird konstatiert, dass sich die deutsche Flüchtlingspolitik seit Anfang 2016 „drastisch verändert“ habe. Politische Beobachter wiesen etwa auf die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei hin, die die Zahl der Flüchtlinge, die an der Küste Griechenlands ankommen, deutlich reduziert habe. Gleichzeitig sei der Familiennachzug fast vollständig ausgesetzt worden. So sähen sich geflüchtet Familienväter, die gehofft hatten, ihre Familien bald nachzuholen zu können, nun „hohen Hürden“ gegenüber.
So seien zwar die rechtlichen Standards für Asylsuchende nicht gesenkt worden, aber „die Lebensbedingungen sind härter geworden, bevor und nachdem Asyl gewährt wurde“, so die Studienautoren. Gleichzeitig habe die deutsche Regierung die Zahl der Länder, die als sichere Drittstaaten gelten, deutlich erhöht. Wer aus sicheren Drittstaaten nach Deutschland einreist, mit dem Ziel, Asyl zu beantragen, habe „kaum noch eine Chance, den Antrag überhaupt zu stellen“. Bürger dieser Staaten könnten ohne weitere Prüfung zurückgeschickt werden, wenn sie nicht beweisen können, dass ihr Leben bedroht sei.
„Dieser politische Wandel ist nur vor dem Hintergrund sich verändernder politischer Rahmenbedingungen zu verstehen“, sind die Bertelsmann-Experten überzeugt. So sei das Jahr 2016 gekennzeichnet durch einen „rapiden“ Rückgang der Popularität der Bundeskanzlerin, durch „großen“ Widerstand gegen ihre Politik aus ihren eigenen Reihen und vom Aufstieg der rechtspopulistischen AfD.
Angst vor der Globalisierung spaltet Europa
Die gegenwärtige Lage stellt allerdings nicht nur für die deutsche Politik einer Herausforderung dar, wie ein anderer Befund der Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Danach ist die Angst vor der Globalisierung bei den Europäern unterschiedlich ausgeprägt: Während eine Mehrheit der EU-Bürger (55 Prozent) die internationale Verflechtung als Chance begreift, empfindet sie fast jeder zweite (45 Prozent) als Gefahr. Dabei gilt: Je niedriger das Bildungsniveau und je höher das Alter der Befragten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen Globalisierung als Gefahr empfinden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich Globalisierungspessimisten und -optimisten auf der europäische Landkarte verteilen. Während in Österreich und Frankreich die Angst vor der Globalisierung am höchsten ausgeprägt ist (55 bzw. 54 Prozent), leben in Großbritannien (64 Prozent), Italien und Spanien (jeweils 61 Prozent) die meisten Globalisierungsoptimisten. Deutschland liegt mit einer Mehrheit für die Optimisten (55 zu 45 Prozent) damit im EU-Trend.
In allen Ländern sind laut der Studie Einkommen, Bildungsgrad und Alter der Menschen ausschlaggebend für ihre Bewertungen: Bei Befragten, die sich selbst der Mittelschicht zuordnen, sind demnach die Globalisierungsoptimisten EU-weit deutlich in der Mehrheit (63 zu 37 Prozent), während in der Arbeiterschicht Pessimisten und Optimisten nahezu gleichauf sind (47 zu 53 Prozent).
Das ist Marine Le Pen
Marine Le Pen, Tochter des Politikers und FN-Gründers Jean-Marie Le Pen wurde am 5. August 1968 in Neuilly-sur-Seine geboren. Als Kind überlebte sie ein Attentat, das 1976 gegen das Wohnhaus der Familie verübt wurde. Die 46-Jährige war mit Geschäftsmann Franck Chauffroy verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Nach der Scheidung heiratete sie den FN-Funktionär Éric Lorio. Auch diese Ehe scheiterte. Marine Le Pen studierte in Paris Jura und erhielt 1992 die Anwaltszulassung. Bis 1998 war sie als Anwältin tätig. Besonders markant ist ihre dominante und und für eine Frau sehr tiefe Stimme.
Seit Marine Le Pen den Parteivorsitz inne hat, versucht sie frischen Wind in den „Front National“ zu bringen. So hat sie sich zum Ziel gesetzt, Anspielungen auf das Dritte Reich zu vermeiden, um das Bild einer rechtsextremen Partei loszuwerden. Dazu passt auch, dass sie sich stärker auf die Alltagsprobleme der Bürger fokussiert. Die hohe Arbeitslosigkeit und steigende Preise sind nun die neuen zentralen Themen. Ihre Rezepte zur Überwindung der Krise: Heimische Investoren sollen von einer Abwanderung abgehalten werden, Franzosen sollen bei der Jobsuche bevorzugt werden und das Land aus dem Euro austreten. Feindbild ist die "wilde Globalisierung".
Von 1998 bis 2004 war Marine Le Pen Abgeordnete im Parlament der Region Nord-Pas-de-Calais. Über ihren Wahlkreis Île-de-France zog sie 2004 ins Europaparlament ein. Nach Stationen im Regionalparlament der Île-de-France wurde sie 2011 an die Parteispitze des Front National gewählt. Bei der Präsidentenwahl 2012 wurde sie nach Hollande und Sarkozy drittstärkste. Zeitweise sahen Umfrageergebnisse, die im Magazin „Le Nouvel Observateur“ erschienen sind, den Front National als stärkste französische Partei. Seit der Europawahl im Mai 2014 ist sie Abgeordnete im Europäischen Parlament.
Eine explizite Feindschaft zum Islam gehört zu den zentralen Positionen Le Pens und ihrer Partei. Eine entsprechende Äußerung in einer Wahlkampfrede im Dezember 2010 brachte Le Pen ins Visier der Staatsanwaltschaft. Sie verglich öffentliche Gebete von Muslimen mit der deutschen Nazi-Besatzung. "Sicher geschieht dies ohne Panzer und ohne Soldaten, aber trotzdem ist es eine Besatzung, und betroffen sind die Einwohner", so Le Pen.
Höherqualifizierte sehen die Globalisierung, wie die EU-Befragung ergab, häufiger positiv (62 Prozent) als Geringqualifizierte (53 Prozent). Am aufgeschlossensten gegenüber der Globalisierung sind demnach junge Europäer zwischen 18 und 25 Jahren (61 Prozent). Bertelsmann-Vorstand De Geus gibt denn auch zu bedenken, dass Deutschland und Europa einerseits „enorm“ von der Globalisierung profitiert hätten, andererseits sich aber viele Menschen zurückgelassen fühlten. „Wir müssen die internationale Verflechtung so gestalten, dass sie möglichst vielen Menschen nützt und nicht schadet“, so De Geus.
Wie wichtig hier ein Umdenken ist, zeigt auch der Umfragebefund, dass die Globalisierungsängste einhergehen mit einer ablehnenden Haltung gegenüber Politik und Gesellschaft. Globalisierungspessimisten würden demnach fast zur Hälfte (47 Prozent) für einen EU-Austritt stimmen. Nicht mal jeder Zehnte von ihnen (9 Prozent) vertraut Politikern allgemein und weniger als die Hälfte (38 Prozent) ist zufrieden mit der Demokratie in ihrem Land.
Globalisierungsoptimisten hingegen stimmen mit großer Mehrheit für die EU (83 Prozent) und sind mehrheitlich (53 Prozent) zufrieden mit der Demokratie. Das Vertrauen in Politiker ist allerdings auch bei den Optimisten nicht sehr stark ausgeprägt: Nur jeder fünfte vertraut seinen Volks- und Regierungsvertretern.
Befragt nach den konkreten Bedrohungen der Globalisierung zeigt sich ein Bild von Ausgrenzung und Unkenntnis. Die Pessimisten fühlen sich in ihren Gesellschaften mehrheitlich ausgegrenzt (54 Prozent) und sehen Migration als eine entscheidende Herausforderung der kommenden Jahre (53 Prozent). Interessanterweise hat aber nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen laut Eigenauskunft überhaupt Kontakt mit Ausländern (55 Prozent).
Das Migrations-Thema ist auch in der Umfrage der Körber-Stiftung neben den Themen Brexit und transatlantische Entfremdung ein Grund dafür, dass die deutsche Bevölkerung zweifelt, ob die EU-Mitgliedsstaaten die richtigen Entscheidungen treffen. So urteilen 62 Prozent der Befragten, die EU sei nicht auf dem richtigen Weg. Gleichwohl haben die Befragten viel Vertrauen in Deutschlands Rolle in der EU und wünschen sich mehrheitlich einen Ausbau der Führung (59 Prozent). Eine ähnlich große Mehrheit sagt sogar, die Bundesregierung solle ihre Interessen in Krisenzeiten gegen die anderer Mitgliedsländer durchsetzen (60 Prozent).