Der Brexit hat die Laune verhagelt. Eigentlich soll das große Treffen der Europäischen Zentralbank (EZB) in Sintra ein entspanntes Beisammensein der internationalen Notenbanker-Gemeinde sein. Das Örtchen nahe dem Atlantik, rund 25 Kilometer von Lissabon entfernt, soll als idyllische Kulisse dienen für den entspannten Austausch abseits von Bürotürmen und Newstickern, sei es beim Golfspielen oder Wandern.
In diesem Jahr ist die Stimmung in dem in den Bergen von Sintra gelegenen Fünf-Sterne-Resort allerdings gedrückt. Eigentlich wollte EZB-Chef Mario Draghi hier am Mittwoch seine Notenbank-Kollegen Janet Yellen (Fed) und Mark Carney (Bank of England) willkommen heißen. Daraus wird nun nichts.
Sowohl Yellen als auch Carney hatten das Treffen bereits am Montag abgesagt, Draghi selber wird schon am Dienstag wieder nach Brüssel reisen und am EU-Gipfel teilnehmen, um dort mit Europas Regierungschefs über den Austritt Großbritanniens aus der EU zu verhandeln.
Traurigkeit beschreibe den Brexit am besten, sagte Draghi bei seiner kurzen Eröffnungsrede am Montagabend. Und tatsächlich sah man dem Italiener an, dass die vergangenen Tage nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sind.
Wer auf mehr gehofft hat, wird allerdings enttäuscht. Bei seiner mit Spannung erwarteten Rede am Dienstagmorgen vor der versammelten Notenbanker-Elite sparte der EZB-Chef das Thema Brexit komplett aus. Während andere Teilnehmer der akademischen Konferenz zumindest einzelne Äußerungen zum Referendum einstreuten und das Thema wie ein Damoklesschwert über dem Tagungsort hing, kam in Draghis Rede nicht einmal die Worte „Brexit“ oder „Großbritannien“ vor.
Geldpolitik der EZB: Belastungen durch Niedrigzinsen
In Deutschland beliebte Sparformen wie Tages- und Festgeld werfen kaum noch etwas ab. Die niedrige Inflation gleiche die negativen Effekte der niedrigen Zinsen allerdings aus, betont EZB-Präsident Mario Draghi. Derzeit liege die Verzinsung minus Inflation höher als im Durchschnitt der 1990er Jahre. „Zu der Zeit hatten Sie höhere Zinsen auf dem Sparbuch, aber zugleich meist Inflation, die weit darüber lag und alles auffraß“, sagte Draghi jüngst in einem Interview. Im Mai lagen die Verbraucherpreise in Deutschland nach vorläufigen Berechnungen gerade einmal um 0,1 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Stand: 07.06.2016
Finanzinstitute müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Für den durchschnittlichen Privatkunden sind Strafzinsen bislang kein Thema. Man werde „alles tun, um die privaten Sparer vor Negativzinsen zu schützen - in Teilen auch zu Lasten der eigenen Ertragslage“, sagte jüngst der Chef des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Georg Fahrenschon. Wenn die aktuelle Niedrigzinsphase aber lange andauere, würden die Sparkassen die Kunden letztlich nicht davor bewahren können. Zudem könnten Geldhäuser nach Angaben des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Uwe Fröhlich, gezwungen sein, an der Gebührenschraube zu drehen: „Jeder muss in seiner Bank überlegen, wie er über Konditionen-Gestaltung gegen die Ertragsverluste anarbeitet, die ohne Zweifel da sind.“
Lebensversicherern fällt es immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. Die Folge: Die Verzinsung des Altersvorsorge-Klassikers sinkt seit geraumer Zeit. Auch Betriebsrenten leiden, Firmen müssen wegen der Zinsschmelze immer mehr Geld für die Pensionsverbindlichkeiten zurücklegen. Viele Unternehmen versprechen bei Neueinstellungen daher keine konkreten Leistungen mehr, sondern sagen lediglich zu, einen bestimmten Betrag pro Monat in Vorsorgekassen einzuzahlen. Das Zinsrisiko tragen die künftigen Pensionäre.
Stattdessen nutzt der Italiener seine Rede für einen Appell an seine Notenbankkollegen: „Wir brauchen vielleicht keine formelle Koordination der Geldpolitik“, sagte Draghi. Aber Zentralbanken könnten profitieren, wenn sie ihre Geldpolitik genauer abstimmen würden, erklärte der EZB-Präsident.
Das gelte insbesondere beim Thema Inflation. „In den vergangenen Jahren waren wir alle mit der gleichen Aufgabe beschäftigt“, sagte Draghi im Hinblick auf die noch immer niedrigen Inflationsraten in weiten Teilen der Weltwirtschaft. Das sei kein Zufall, erklärte Draghi, denn immerhin seien es globale Faktoren, die dafür sorgten, dass die Preissteigerung deutlich unterhalb des Inflationsziels der EZB von knapp zwei Prozent rangiere.
Geldpolitik der EZB: Entlastungen durch Niedrigzinsen
Verbraucher sparen bei Darlehen, ob für den neuen Fernseher oder für die eigenen vier Wände. Hausbauer können sich zu historisch günstigen Konditionen Geld leihen. Nach Angaben des Bankenverbandes BdB sind Hypothekendarlehen mit zehn Jahren Zinsbindung derzeit zu Effektivzinsen von durchschnittlich etwa 1,4 Prozent zu haben. 2007 lagen sie noch bei mehr als fünf Prozent.
Billiger ist es auch geworden, das eigene Konto zu überziehen. Vor fünf Jahren lagen die Dispozinsen nach Angaben der Finanzberatung FMH im Schnitt noch bei 11,26 Prozent. Mittlerweile sind es demnach durchschnittlich 9,51 Prozent.
Seit Jahren ist günstiges Notenbankgeld der zentrale Treibstoff für die Börsen. Aktionäre können von steigenden Kursen profitieren. Zuletzt wagten sich die eher börsenscheuen Deutschen wieder stärker an den Aktienmarkt. Knapp 9,01 Millionen Menschen besaßen nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts im vergangenen Jahr Aktien und/oder Anteile an Aktienfonds - das ist der höchste Stand seit 2012.
Mit der Ausgabe von Anleihen finanziert die öffentliche Hand - neben Steuereinkünften - einen Großteil ihrer Ausgaben. Am Montag fiel die sogenannte Umlaufrendite, die ein durchschnittliches Maß für die „Verzinsung“ von Staatspapieren mit einer Laufzeit von drei bis 30 Jahren ist, in Deutschland erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik in den negativen Bereich. Der Bund „verdient“ in einer solchen Situation somit an seiner eigenen Schuldenaufnahme, anstatt den Gläubigern - den Käufern der Anleihen - einen Zins zu zahlen.
Stand: 7. Juni 2016
Draghi verweist auf die Nebenwirkungen, zu denen auch die unkonventionellen Maßnahmen der Notenbanken gehörten. Die extremen Wechselkursschwankungen der global bedeutenden Währungen würden das zeigen, so der Italiener. Sie seien aber nicht so sehr das Ergebnis der schieren Maßnahmen der Notenbanken, sondern der Intensität, mit denen diese Instrumente der Geldpolitik genutzt worden wären. Laut Draghi könnten bessere geldpolitische Absprachen und ein globaler Mix der Geldpolitik dafür sorgen, ungewollte Nebeneffekte wie instabile Märkte zu verhindern.
Draghi fordert globalen Aufbau
Einerseits scheint Draghis Rede völlig aus der Zeit gegriffen, da er das dominierende Thema der vergangenen Tage prominent ignoriert. Andererseits passt sie aber auch bestens zu Tagen wie diesen und sendet ein wichtiges Signal: Die EZB kann das hier nicht mehr alleine.
Insbesondere in turbulenten Zeiten wird klar, dass die EZB sowie andere Notenbanken nicht alleine dafür sorgen können, Europa und die Euro-Zone auf einen stabilen Wachstumspfad zurückzubringen.
Im Gegenteil, viele sehen gerade bei den Zentralbanken eine Mitschuld für die Skepsis der Bürger. Die ultra-expansive Geldpolitik nimmt den Sparern ihren Zins, gleichzeitig scheitern die Notenbanker aber zu oft daran, ihnen zu erklären, warum die Zinsen so niedrig sein müssen, wie sie sind.
Bisher haben die Notenbanken den Regierungen mit dem billigen Geld Zeit gekauft. Nun ist es an der Zeit, dass Strukturreformen folgen. Aber nicht nur die Regierungen stehen unter Handlungsdruck. Auch für die EZB dürfte der Brexit eine Prüfung werden, denn es sind vor allem die von der Notenbank beaufsichtigten Banken, die unter den Verwerfungen an den Finanzmärkten leiden. Allein die Aktien der Deutschen Bank rutschten innerhalb der vergangenen sieben Tage rund 13 Prozent ins Minus.
Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid
„Wir müssen einen sanften Übergang in eine neue wirtschaftliche Beziehung sicherstellen. Der IWF unterstützt die Bank von England und die Europäische Zentralbank darin, für die nötige Liquidität des Bankensystems zu sorgen und Schwankungen nach der Abstimmung zu begrenzen.“
„Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor.“
„Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“
„Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten.“
„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.“
„Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden.“
„Weniger Wirtschaftswachstum in den EU-Staaten und ein schwächeres Exportgeschäft werden die Konsequenzen sein.“
„Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen schnell die dringend erforderlichen Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Fairness im EU-Binnenmarkt in Angriff nehmen.“
"Es kommt jetzt darauf an, ob wir eine saubere oder eine schmutzige Scheidung bekommen. Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält. Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt. Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land ist zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten.
Der Brexit stellt auch ein politischen Risiko für die EU dar. Denn das wird den Anti-EU-Parteien in vielen EU-Ländern Rückenwind geben. Die Regierungen werden noch weniger als bisher mehr Europa wagen, so dass die Probleme der Währungsunion weitgehend ungelöst bleiben. Was die EZB mehr denn je zwingt, die Probleme durch eine lockere Geldpolitik zu übertünchen.
Der Brexit schafft Unsicherheit und ist insofern schlecht für die deutsche Wirtschaft. Aber wir erwarten nicht, dass der Euro-Raum in die Rezession zurückfällt. Das gilt auch für Großbritannien und erst recht für den Fall, dass sich allmählich eine saubere Scheidung abzeichnet."
"Jetzt kommt eine große Phase der absoluten Unsicherheit. Denn etwas Vergleichbares hatten wir noch nicht. Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft." Der Aufschwung in Großbritannien dürfte nun weitgehend zu Ende sein, in der Euro-Zone werde er sich abschwächen. Hersteller von Investitionsgütern wie Maschinen und Autos dürften die Folgen stärker spüren. "Deutschland ist also stärker betroffen als beispielsweise Spanien", sagte Schmieding.
"Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt." Es sei wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibe.
"Die Finanzmärkte werden einige Tage brauchen, um den Schock zu verarbeiten. Die Politik muss jetzt versuchen, das Beste aus einer Entscheidung zu machen, die die EU schwächt. Das wird lange brauchen. Und so lange wird Unsicherheit das Geschehen prägen, zumal die Fliehkräfte in anderen EU-Ländern stärker zutage treten werden. Das Ergebnis kann auch die Nicht-Mainstream-Parteien in Spanien stärken, wo am Sonntag gewählt wird. Bis gestern hatte Europa ein Problem, jetzt ist erst mal Panik."
"Das Ergebnis des Referendums ist kein gutes Signal für Europa. Aber es ist vor allem kein gutes Signal für Großbritannien. Die politischen Strukturen der EU sind stark. Und anders als bei einem 'Grexit', also dem Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion, für das es keine rechtliche Grundlage gibt, ist die Prozedur für das Ausscheiden eines Landes aus der EU rechtlich klar geregelt. Die Folgen für den europäischen Integrationsprozess werden weniger gravierend sein, als jetzt oft vorschnell beschrieben. Auch wenn es schwierig wird: Die EU kann einen Austritt Großbritanniens verkraften.
Innerhalb Europas sollte der Fokus der nächsten Monate auf der Vertiefung des Euro-Raums liegen. Die Euro-Krise ist immer noch nicht ausgestanden. Die EZB hat die Grenze ihres Mandats erreicht. Nun müssen sich die Euro-Länder so schnell wie möglich auf einen Stabilisierungsplan einigen, der sowohl mehr Risikoteilung (vor allem schwierig für Deutschland) als auch mehr Souveränitätsteilung (vor allem schwierig für Frankreich) umfasst. Allerdings ist für einen solchen Plan kaum Zeit."
"Jetzt wird es turbulent an den Finanzmärkten. Das Pfund ist bereits auf einem 30-Jahres-Tief gegenüber dem Dollar. In absehbarerer Zeit sollten wir aber wieder eine Erholung sehen. Die Finanzmärkte fragen sich jetzt: Wie sieht das neue Verhältnis zwischen EU und Großbritannien aus? Die Briten könnten künftig Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden, wie Norwegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Verhältnis EU-Großbritannien damit beendet ist. Die EU wird das Land nicht am langen Arm verhungern lassen.
Mit dem heutigen Tag ändert sich erst einmal gar nichts. Es wird jetzt Verhandlungen mit der EU geben. So lange bleibt GB Vollmitglied der EU, also die nächsten zwei Jahre. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage dramatisch verändern wird. Die Briten dürften es aber merken: Die dortigen Unternehmen dürften jetzt Investitionen überdenken. Aber ich denke nicht, dass das Land nun in eine Rezession fällt."
Viele Beobachter glauben, dass die EZB ihr Anleihekaufprogramm angesichts des Brexit weiter ausweiten könnte. In puncto Unabhängigkeit würde es dann schwierig für die Zentralbank. Einerseits wacht sie als Aufseher über die Stabilität der Banken, andererseits schwächt sie sie mit ihrem negativen Zins, den sie auf kurzfristige Einlagen der Institute erhebt.
Die „neue Realität“ erfordere einen globalen Aufbau, um die Effekte der Geldpolitik zu maximieren, sagte Draghi am Ende seiner Rede in Sintra.
Er hat es zwar nicht gesagt, aber vermutlich hat er dabei auch an den Brexit gedacht.